Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
Baruchs goldene Periode zwischen vier und vierzehn Jahren war längst vorüber. Der Junge hatte sich verändert, hatte eine falsche Richtung eingeschlagen; nun musste die gesamte Gemeinde der Gefahr ins Auge sehen, dass das Wunderkind sich in ein Monster verwandelte, das seinesgleichen verschlang.
Schritte knarrten auf der Treppe. Baruch war eingetroffen. Rabbi Mortera blieb sitzen, und als Baruch an seiner Tür auftauchte, drehte er sich nicht zu ihm um, um ihn zu begrüßen, sondern deutete nur auf einen niedrigen, unbequemen Stuhl neben seinem Schreibtisch und sagte schroff: »Setz dich dorthin. Ich habe dir katastrophale Neuigkeiten zu verkünden, Neuigkeiten, welche dein Leben für immer verändern werden.« Er sprach mit ihm auf Portugiesisch, leicht stockend zwar, aber annehmbar. Obwohl Rabbi Mortera von den Aschkenasen und nicht von den Sepharden abstammte und obwohl er in Italien geboren und aufgewachsen war, hatte er eine Marranin geheiratet und so passabel Portugiesisch sprechen gelernt, dass er am Sabbat Hunderte von Predigten vor einer Gemeinde mit überwiegend portugiesischer Herkunft halten konnte.
Bento sprach mit ruhiger Stimme: »Zweifellos ist folgendes geschehen: Die Parnassim haben beschlossen, mich zu exkommunizieren und Sie beauftragt, den Cherem alsbald in einer öffentlichen Zeremonie in der Synagoge zu verhängen.«
»Unverschämt wie immer, muss ich feststellen. Ich sollte mich inzwischen daran gewöhnt haben, doch bin ich nach wie vor verblüfft über die Wandlung eines weisen Kindes in einen törichten Erwachsenen. Mit deiner Vermutung hast du Recht, Baruch – genau das ist deren Anweisung an mich. Morgen wirst du tatsächlich unter Cherem gestellt und für alle Zeiten aus dieser Gemeinde ausgeschlossen. Aber ich widerspreche deinem nachlässigen Gebrauch des Verbs ›geschehen‹. Bilde dir nur nicht ein, der Cherem sei nur etwas, was dir ›geschehen‹ ist. Vielmehr bist du es, der den C herem mit deinen eigenen Handlungen selbst auf sich geladen hat.«
Baruch öffnete den Mund, um zu antworten, aber der Rabbiner ließ sich nicht unterbrechen: »Dennoch ist vielleicht noch nicht alles verloren. Ich bin ein loyaler Mann, und meine lange Freundschaft zu deinem seligen Vater gebietet es, dass ich alles tue, was in meiner Macht steht, um dir Schutz und Führung anzubieten. Was ich nun von dir erwarte, ist, dass du einfach sitzen bleibst und zuhörst. Ich unterrichte dich schon, seit du fünf Jahre alt bist, und für einen weiteren Unterricht bist du noch nicht zu alt. Ich möchte dir eine ganz besondere Geschichtsstunde erteilen. Lass uns zum antiken Spanien, dem Land deiner Vorfahren, zurückgehen«, begann Saul Mortera so eindringlich wie in seinen Predigten. »Du weißt doch, dass die ersten Juden vor vielleicht tausend Jahren nach Spanien kamen? Und dass sie dort jahrhundertelang in Frieden mit den Mauren und den Christen lebten, obwohl sie überall sonst Anfeindungen ausgesetzt waren?«
Baruch nickte müde und verdrehte die Augen.
Rabbi Mortera registrierte es, ließ es aber durchgehen. »Im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert wurden wir aus einem Land nach dem anderen vertrieben, zuerst aus England, dem Ursprung der vermaledeiten Ritualmordlegende, der zufolge wir beschuldigt wurden, mit dem Blut nichtjüdischer Kinder Matzen zu backen, dann warf uns Frankreich hinaus, dann die Städte in Deutschland, Italien und Sizilien – praktisch ganz Europa – außer Spanien, wo weiterhin die Convivencia galt und Juden, Christen und Mauren sich friedlich miteinander vermischten. Aber die schrittweise Wiedereroberung Spaniens durch die Christen leitete den Niedergang dieser goldenen Periode ein. Und du weißt vom Ende der Convivencia im Jahr 1391?«
»Ja, ich weiß von den Vertreibungen und von den Pogromen in Kastilien und Aragon im Jahr 1391. Das weiß ich alles. Und Sie wissen, dass ich das weiß. Warum erzählen Sie mir das heute?«
»Ich weiß, dass du es zu wissen glaubst . Aber es gibt Wissen, und es gibt wahres Wissen, Wissen tief in deinem Inneren, und diese Stufe hast du noch nicht erreicht. Ich bitte dich im Augenblick nur darum zuzuhören. Sonst nichts. Alles wird sich mit der Zeit aufklären.
Was an 1391 tatsächlich anders war«, fuhr der Rabbiner fort, »war, dass Juden nach dem Pogrom zum allerersten Mal in der Geschichte begannen, zum Christentum zu konvertieren – und sie konvertierten in hellen Scharen, zu Tausenden, zu Zehntausenden. Die spanischen Juden
Weitere Kostenlose Bücher