Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
trat Gabriel vor die Tür und sah den beiden nach, die in der Ferne verschwanden.
In seinem Arbeitszimmer im ersten Stockwerk der Synagoge trommelte Rabbi Saul Levi Mortera in Erwartung Baruch Spinozas ärgerlich mit seiner Schreibfeder auf den Schreibtisch. Er war im Stil eines wohlhabenden holländischen Bürgers gekleidet, Kamelhaarhose und Jacke sowie Lederschuhe mit silbernen Schnallen. Rabbi Mortera, ein hochgewachsener, sechzigjähriger Mann mit rasiermesserscharfer Nase, furchteinflößenden Augen, strengen Lippen und einem sorgfältig getrimmten, grauen Ziegenbart, war vieles – angesehener Gelehrter, überaus produktiver Schriftsteller, leidenschaftlicher intellektueller Kämpfer, siegreicher Streiter in erbitterten Schlachten mit konkurrierenden Rabbinern, beherzter Hüter der Heiligkeit der Thora – aber ein geduldiger Mann war er nicht. Fast eine halbe Stunde war es her, seit er seinen Boten, einen Jungen in der Bar-Mitzwa- Ausbildung, zu seinem missratenen, ehemaligen Schüler geschickt hatte.
Seit siebenunddreißig Jahren führte Saul Mortera majestätisch den Vorsitz der Amsterdamer jüdischen Gemeinde. 1619 war er in sein erstes Amt als Rabbiner von Beth Jacob, einer von drei kleinen sephardischen Synagogen in der Stadt, berufen worden. Als seine Gemeinde sich 1639 mit Neve Shalom und Beth Israel vereinigte, gab man Saul Mortera den Vorzug gegenüber anderen Kandidaten, und er übernahm das Amt des Oberrabbiners der neuen Talmud-Thora-Synagoge. Als mächtiges Bollwerk traditionellen jüdischen Rechts hatte er über Jahrzehnte seine Gemeinde vor der Skepsis und dem Säkularismus portugiesischer Immigranten geschützt, die in Wellen über Amsterdam hereinbrachen; unter ihnen waren viele, die gezwungen worden waren, zum Christentum zu konvertieren, und nur wenige hatten eine frühe traditionelle jüdische Ausbildung genossen. Er war müde: Erwachsene auf die alten Traditionen einzuschwören ist Schwerstarbeit. Die Lektion, die alle religiösen Lehrer irgendwann begreifen müssen, war ihm nur allzu vertraut: Es ist unabdingbar, Schüler einzufangen, solange sie noch sehr jung sind.
Als unermüdlicher Pädagoge entwickelte er einen umfangreichen Lehrplan, stellte viele Lehrer ein, unterrichtete persönlich täglich Hebräisch, die Thora und den Talmud für die älteren Schüler und trug endlose Zweikämpfe mit anderen Rabbinern aus, um seine Interpretationen der Gesetze der Thora durchzusetzen. Einen seiner erbittertsten Kämpfe hatte er fünfundzwanzig Jahre zuvor mit seinem Assistenten und Rivalen, Rabbi Isaac Aboab de Fonseca, ausgefochten. Es war um die Frage gegangen, ob reulose jüdische Sünder und selbst Juden, die die Inquisition unter Androhung der Todesstrafe gezwungen hatte, zum Christentum zu konvertieren, auf ein ewiges Leben im Jenseits hoffen durften. Rabbi Aboab, der wie viele Mitglieder der Gemeinde Conversos in seiner Familie hatte, die in Portugal geblieben waren, argumentierte, dass ein Jude immer ein Jude bliebe und dass alle Juden am Ende in die zukünftige himmlische Welt eintreten dürften. Jüdisches Blut sei unzerstörbar, behauptete er, und könne durch nichts ausradiert werden, nicht einmal durch Konversion zu einer anderen Religion. Paradoxerweise untermauerte er seine Behauptung mit einem Verweis auf Königin Isabella von Spanien, die große Feindin der Juden, welche die Unzerstörbarkeit des jüdischen Blutes anerkannte, als sie die Limpiezas de Sangre einführte, Blutgesetze, denen zufolge es »Neuchristen« – also jüdischen Conversos – verwehrt war, wichtige staatsbürgerliche und militärische Ämter zu bekleiden.
Rabbi Morteras Position als Hardliner entsprach seiner Physis – unnachgiebig, kompromisslos, oppositionell –, und er beharrte darauf, dass allen reulosen Juden, welche jüdisches Gesetz brachen, der Zugang zur zukünftigen himmlischen Welt für alle Ewigkeit verwehrt war und sie stattdessen ewige Verdammnis erleiden sollten. Gesetz war Gesetz, da gab es keine Ausnahmen, auch nicht für diejenigen Juden, die sich der portugiesischen und spanischen Inquisition nur deshalb unterwarfen, um der angedrohten Todesstrafe zu entgehen. Alle Juden, die nicht beschnitten waren, die die Speisevorschriften nicht einhielten, die den Sabbat oder andere der Myriaden von religiösen Vorschriften nicht befolgten, sollten ewige Verdammnis erleiden.
Morteras unversöhnliche Deklaration erzürnte die Amsterdamer Juden, die Conversos in ihrer Verwandtschaft hatten,
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