Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
gaben auf. Sie waren schwach. Sie beschlossen, dass unsere Thora – das direkte Wort Gottes – und unser dreitausend Jahre altes Erbe den Preis einer fortwährenden Bedrohung nicht wert waren.
Diese massenhafte jüdische Konversion war von welterschütternder Bedeutung: Nie zuvor in der Geschichte hatten wir Juden unseren Glauben aufgegeben. Vergleiche das mit der Reaktion der Juden von 1096. Kennst du dieses Datum? Weißt du, worauf ich mich beziehe, Baruch?«
»Zweifellos meinen Sie die Juden, die bei den Pogromen während der Kreuzzüge abgeschlachtet wurden – das Pogrom in Mainz von 1096.«
»In Mainz und anderswo im ganzen Rheinland. Jawohl, abgeschlachtet. Und weißt du, wer die Schlächter anführte? Die Mönche! Wann immer Juden abgeschlachtet werden, finden sich die Männer des Kreuzes an vorderster Front der Meute. Ja, diese edlen Juden aus Mainz, diese wunderbaren Märtyrer, sie entschieden sich für den Tod statt für die Konversion – viele hielten den Mördern den Kopf hin, und viele andere schlachteten lieber ihre eigenen Familien ab, als sie von den Schwertern der Heiden schänden zu lassen. Sie starben lieber, statt zu konvertieren.«
Bento sah ihn ungläubig an. »Und das begrüßen Sie? Sie halten es für rühmlich, die eigene Existenz zu beenden und bei dieser Gelegenheit gleich auch die eigenen Kinder zu ermorden, um …«
»Baruch, du musst noch viel lernen, wenn du keinen Grund für würdig erachtest, dein eigenes, unbedeutendes Leben niederzulegen, doch es ist in diesem Augenblick zu wenig Zeit, um dich über solche Dinge zu unterrichten. Du bist heute nicht hier, um deine Unverschämtheiten zur Schau zu stellen. Dafür ist später noch genügend Zeit. Ob es dir gefällt oder nicht, du befindest dich nun am großen Scheideweg deines Lebens, und ich versuche, dir zu helfen, deinen Weg zu wählen. Ich möchte, dass du aufmerksam und schweigend meinem Bericht darüber lauschest, in welcher Gefahr sich unsere gesamte jüdische Zivilisation derzeit befindet.«
Bento hielt den Kopf aufrecht, atmete ruhig und nahm wahr, wie sehr die scharfe Stimme des Rabbiners ihn früher geängstigt hatte und wie wenig Schrecken sie jetzt auf ihn ausübte.
Rabbi Mortera holte tief Luft und fuhr fort: »Im fünfzehnten Jahrhundert gab es noch immer Zehntausende neuer Konversionen in Spanien, darunter waren auch Mitglieder deiner Familie. Aber der Blutdurst der katholischen Kirche war noch immer nicht gestillt. Sie behauptete, dass Conversos nicht christlich genug seien, dass manche von ihnen noch immer jüdische Gefühle hegten, und sie beschloss, Inquisitoren auszuschicken, die alles Jüdische zu Tage fördern sollten. Sie fragten: ›Was haben Sie am Freitag, am Samstag gemacht?‹, ›Zünden Sie Kerzen an?‹ ›An welchem Tag wechseln Sie die Bettwäsche?‹, ›Wie bereiten Sie Ihre Suppen zu?‹ Und wenn die Inquisitoren irgendwelche Spuren jüdischer Merkmale, jüdischer Bräuche oder jüdischer Speisezubereitungen entdeckten, verbrannten die freundlichen Priester diese Menschen bei lebendigem Leibe auf dem Scheiterhaufen. Aber selbst dann waren sie von der Reinheit der Conversos noch nicht überzeugt. Jede Spur des Juden musste ausgemerzt werden. Sie wollten nicht, dass der Blick eines Conversos auf einen praktizierenden Juden fiel, denn sie befürchteten, dass dadurch die alten Bräuche wieder aufleben könnten. Deshalb vertrieben sie 1492 alle Juden, jeden einzelnen von ihnen, aus Spanien. Viele, darunter auch deine eigenen Vorfahren, gingen nach Portugal, erfreuten sich dort aber nur einer kurzen Verschnaufpause. Fünf Jahre später verfügte der König von Portugal, dass jeder Jude sich zwischen Konversion oder Vertreibung entscheiden müsse. Und wiederum wählten Zehntausende die Konversion und waren für unseren Glauben verloren. Das war der geschichtliche Tiefpunkt des Judentums, ein solcher Tiefpunkt, dass viele, darunter auch ich, glaubten, die Ankunft des Messias stünde kurz bevor. Du erinnerst dich, dass ich dir die großartige, dreibändige Messianische Trilogie von Isaac Abrabanel geliehen hatte, in der genau dies postuliert wird?«
»Ich erinnere mich, dass Abrabanel kein rationales Argument vorbringt, weshalb die Juden an ihrem Tiefpunkt angekommen sein müssen, um dieses mythische Ereignis auszulösen. Nicht einmal eine Erklärung dafür, weshalb ein allmächtiger Gott nicht in der Lage sein soll, sein auserwähltes Volk zu schützen, und sie gar nicht erst zu diesem Punkt
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