Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
kommen lässt, noch weshalb …«
»Schweige still. Höre heute einfach nur zu, Baruch«, bellte der Rabbiner. »Befolge nur ein einziges Mal, vielleicht zum letzten Mal, genau das, was ich dir sage . Wenn ich dir eine Frage stelle, antworte nur mit ja oder nein. Ich habe dir nur noch ein paar Dinge zu sagen. Ich sprach gerade über den tiefsten Punkt in der jüdischen Geschichte. Wo konnten die Juden des ausgehenden fünfzehnten und des sechzehnten Jahrhunderts Schutz suchen? Wo in der ganzen Welt gab es einen sicheren Hort? Einige gingen nach Osten ins ottomanische Königreich oder nach Livorno in Italien, wo sie wegen ihrer wertvollen internationalen Handelsbeziehungen toleriert wurden. Und dann, als nach 1579 die nördlichen Provinzen der Niederlande ihre Unabhängigkeit vom katholischen Spanien proklamierten, fanden einige Juden den Weg hierher nach Amsterdam.
Wie nahmen uns die Holländer auf? Wie kein anderes Volk auf der ganzen Welt . Sie waren vollkommen tolerant gegenüber Religionen. Niemand fragte nach religiösen Überzeugungen. Sie waren Calvinisten, gestanden aber allen das Recht zu, ihren Glauben nach Gutdünken auszuüben – nur den Katholiken nicht. Ihnen gegenüber brachten sie nicht viel Toleranz auf. Aber das geht uns nichts an. Hier wurden wir nicht nur nicht drangsaliert, sondern sogar mit offenen Armen empfangen, denn die Niederlande wollten ein wichtiges Handelszentrum werden, und sie wussten, dass Marranen-Händler dabei helfen konnten, diesen Handel aufzubauen. Bald kamen immer mehr Immigranten aus Portugal ins Land und erfreuten sich einer Toleranz, die es seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben hatte. Und auch andere Juden kamen: Auch arme Aschkenaser Juden ergossen sich aus Deutschland und Osteuropa in Wellen über die Niederlande, um der herrschenden ausufernden Gewalt gegen Juden zu entfliehen. Natürlich fehlte diesen Aschkenaser Juden die Kultur der sephardischen Juden: Sie hatten weder eine Ausbildung noch irgendwelche Fähigkeiten, und die meisten wurden Hausierer, Trödler und Krämer. Aber dennoch hießen wir sie willkommen und gaben ihnen Almosen. Wusstest du, dass dein Vater der Aschkenaser-Spendenbüchse in unserer Synagoge regelmäßig großzügige Spenden zukommen ließ?«
Baruch, der weiterhin schwieg, nickte.
»Und dann«, fuhr Rabbi Mortera fort, »gestanden uns die Amsterdamer Behörden in Absprache mit dem großen Juristen Grotius nach ein paar Jahren offiziell das Recht zu, in Amsterdam zu leben. Anfangs waren wir bescheiden und folgten unserer alten Gepflogenheit, uns unauffällig zu verhalten. Deshalb verzichteten wir darauf, unsere vier Synagogen nach außen hin zu kennzeichnen, sondern hielten unsere Gottesdienste in Gebäuden ab, die wie Privathäuser aussahen. Erst als viele Jahre ohne Schikanen vergangen waren, begriffen wir wirklich, dass wir unseren Glauben offen praktizieren und sicher sein durften, dass der Staat unser Leben und unseren Besitz schützen würde. Wir Juden in Amsterdam haben das außerordentliche Glück, am einzigen Ort der ganzen Welt zu leben, wo Juden frei sein können. Stimmst du dem zu – am einzigen Ort der ganzen Welt?«
Baruch rutschte nervös auf seinem Holzstuhl hin und her und nickte zerstreut.
»Geduld, Geduld, Baruch. Hör nur noch einen Augenblick zu – ich wende mich nun genau den Themen zu, die für dich von äußerster Relevanz sind. Unsere bemerkenswerte Freiheit ist an bestimmte Auflagen geknüpft, welche der Amsterdamer Stadtrat explizit dargelegt hat. Zweifellos weißt du, welche Auflagen das sind?«
»Dass wir den christlichen Glauben nicht diffamieren und nicht versuchen, Christen zu bekehren oder zu heiraten«, antwortete Baruch.
»Es gibt noch mehr. Deine Merkfähigkeit ist erstaunlich, aber du erinnerst dich nicht an die anderen Auflagen. Warum? Vielleicht, weil sie dir nicht genehm sind. Dann will ich sie dir in Erinnerung rufen. Grotius verfügte auch, dass alle Juden über vierzehn Jahre ihren Glauben an Gott, an Moses, an die Propheten und an das Leben nach dem Tode erklären müssen und dass unsere religiösen und zivilen Instanzen garantieren müssen, dass keines unserer Gemeindemitglieder etwas sagt oder tut, was irgendeinen Aspekt der Lehre der christlichen Religion in Zweifel ziehen oder untergraben könnte. Andernfalls riskieren wir, unsere Freiheit zu verlieren.«
Rabbi Mortera hielt inne, wedelte mit dem Zeigefinger und fuhr dann langsam und eindringlich fort: »Diesen letzten Punkt möchte ich
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