Das spröde Licht: Roman (German Edition)
nächste Leinwand auf und malte weiter, aber lange Zeit war das eher eine Reflexhandlung, so wie einer, wie man sagt, noch weitergeht, nachdem ihm der Kopf abgeschlagen wurde.
Seit damals sind so viele Jahre vergangen, dass sogar der Kummer in meinem Herzen nach und nach verdorrt ist, so wie die Feuchtigkeit aus einer Frucht entweicht, und es kommt nicht mehr oft vor, dass die Erinnerung an das, was damals geschah, mich plötzlich wieder aufwühlt, als sei es gestern gewesen, und mich zum Schlucken zwingt, um das Schluchzen zu unterdrücken. Aber es kommt noch vor, und dann droht mich der Schmerz jedes Mal zu überwältigen. Doch genauso gibt es Momente, in denen ich an meinen Sohn denke und in denen meine Gefühle so warm sind, dass mir das Leben als etwas Ruhiges, Ewiges erscheint, und der Schmerz kommt mir wie eine Einbildung vor.
Immer wenn ich philosophisch wurde, hatte Sara mich etwas belustigt angesehen. Und jetzt höre ich sie fragen: »Hab ich dich recht verstanden, David? Der Schmerz soll also etwas Ewiges sein und das Leben eine Illusion? Nein. Das Leben ist eine …?« Genau deshalb bemühe ich meine Lupe fast nie, um das bisher Geschriebene noch einmal durchzulesen, denn was bringt es, wenn ich herausfinde, dass ich hier vielleicht etwas Richtiges geschrieben habe und da etwas Dummes – ich tue besser daran, einfach weiterzuschreiben. Ich habe keine Zeit mehr herumzufeilen: Ich bin alt und werde bald blind sein.
Außerdem gibt es keine Wahrheit, die Welt ist nur Musik.
Jetzt lebe ich allein in einem Haus am Rande eines 30000-Seelen-Städtchens namens La Mesa in Zentralkolumbien. Hier starb Sara vor zwei Jahren. Hinter dem Haus ist ein großer Garten, der an ein steil abfallendes, breites Tal heranreicht, über dem die Geier kreisen, Aasgeier, Hühnergeier, Truthahngeier oder wie diese Prachtvögel sonst noch heißen. Manchmal kommen sie ganz nah an den Garten herangeflogen, und wenn meine Augen es erlaubten, könnte ich sehen, wie sie ihre Schwanzfedern zum Steuern bewegen, wie sie ihre Flugrichtung und Höhe ändern, wie sie die Welt genießen. (Ich sehe sie ganz deutlich, und trotzdem sehe ich sie nicht mehr. Wo also ist die Welt? Worauf gründet sie?) Manche Leute staunen, wie sich hinter unserem Garten, direkt hinter den Orangen- und Mandarinenbäumen, die Sara immer so gut gepflegt und gedüngt hat, ein derart tiefes, breites Tal auftut, das so aussieht, als wolle es gleich alles in einer schrecklichen Symphonie verschlingen.
Gesundheitlich geht es mir einigermaßen. Außer den schlechten Augen macht mir die schlechte Durchblutung der Beine, vor allem des linken, zu schaffen, was sich mitten in der Nacht (die Vorliebe für diesen Zeitpunkt ist mir ein Rätsel) in heftigen Stichen in den Fußzehen äußert und mich um den Schlaf bringt. Ansonsten ist alles in Ordnung. Meine Zähne, die habe ich schon seit ungefähr zehn Jahren nicht mehr, und nun trage ich ein künstliches Gebiss. Ich habe mir das beste geleistet, das es gab, sündhaft teuer, der Porsche unter den Gebissen, wie Sara sagte und, um mich zu trösten, gleich hinzufügte, die Prothese sei aber ein enormer Fortschritt im Vergleich zu den Zähnen, die ich davor hatte.
Jeden Morgen kommt eine etwa 45-jährige Frau, Ángela, sie ist den ganzen Tag da, führt mir den Haushalt und kocht. Ángela wirft mir immer vor, ich äße zu wenig und sei für meine Körpergröße zu dünn – als spielte das Verhältnis von Gewicht und Körpergröße bei einem 78-Jährigen eine Rolle. Mein Gedächtnis funktioniert gut, ich bin noch klar bei Verstand, und im Allgemeinen behandeln mich die Leute nicht wie einen Greis. Was sich bei mir aber verändert hat, ist, dass ich mich von den Dingen, die den ungefiederten Zweibeinern normalerweise viel bedeuten, gelöst habe und dass mir nur noch wenige oder gar keine mehr wichtig sind. Bevor das mit Jacobo passierte, habe ich – was mir heute völlig lächerlich erscheint – alles, was über mein künstlerisches Werk gesagt und geschrieben wurde, begierig verfolgt und unter dem Gefühl gelitten, in der Welt der Kunst nicht richtig anerkannt zu sein. Und das stimmte, lange Zeit wurde meine Arbeit nicht sehr beachtet. Wie es der Zufall wollte, war es genau während des langen Leidens meines Sohnes, als sich eine große, klebrige Welle des Ruhms über mich ergoss, auf den ich zu dieser Zeit überhaupt keinen Wert mehr legte und den ich nur als Störung unseres Kummers empfand, so wie ein Transvestit oder
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