Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
Vom Netzwerk:
Gewalten
    Ich hänge. Meine Beine sind vom Körper abgespreizt, an der Wand fixiert. Meine Arme sind vom Körper abgespreizt, an der Wand fixiert. Ich kann meinen Kopf bewegen, sehe Manschetten aus Plastik und festem Stoff, die meine Unterarme umschließen. Ich streiche mit den Fingerspitzen über die Wand, die sich seltsam weich anfühlt. Meine Brille ist weg, und ich drehe meinen Kopf, sehe den Raum um mich herum verschwommen, Neonröhren an der Wand gegenüber strahlen mich an, eine flackert, und in dem Flackern des Lichts dreht sich das Bild ganz langsam, ich sehe mich, wie ist das möglich?, wie ich da so an der kippenden Wand hänge, das Bild dreht sich, plötzlich die Neonröhren unter mir, ich spüre, wie mich diese Manschetten an Armen und Beinen halten und mein Kopf nach vorne fällt und an meinem Hals, der sehr lang ist, in den Raum baumelt, mir ist wie Kotzen, und ich drehe mich mit dem Bild und dem Raum, und ich liege, bin auf ein großes Bett geschnallt, Arme und Beine vom Körper abgespreizt, fixiert.
    Ich sehe, wie ich da so liege auf dem Bett, sehe das von weit entfernt, werde immer kleiner, als ob die Decke dieses
Raumes sich nach oben verschiebt, immer weiter hinauf in diesen Himmel im Dezember, das weiß ich noch, 30 .Dezember auf den 31 .Dezember, Jahr 2008 .
    So klein bin ich da unten und weiß nicht, wie ich da hingekommen bin, ein Flackern in meinem Kopf, ich will mich nicht alleinlassen in diesem weißen Raum auf dem weißen Bett, ich muss doch frieren, denn ich sehe, dass ich nur Unterwäsche trage, schwarzes Unterhemd, schwarze Unterhose, Kontrapunkte in der Arktis, keine Strümpfe, keine Schuhe, und dann plötzlich bin ich wieder ich auf dem Bett, die Neonröhren über mir, bin dann wieder ich über dem Bett, der sich im Bett sieht, der im Bett sieht nur die Decke, bin ich also mehrfach vorhanden?, da stimmt doch was nicht, mein eigenes Gesicht jetzt direkt vor mir, Großaufnahme, Augen aufgerissen, Mund aufgerissen, Falten wie Krater um Augen, um Mund, ich denke: 2028 vielleicht, ich brülle, bis ich nicht mehr brüllen kann. »Hilfe, hilfe, bitte helft mir doch!«
    Aber da kommt keiner, da ist keiner, eine Tür, zwei Fenster mit heruntergelassenen Jalousien, es muss noch Nacht sein draußen, das weiß ich. Ein Waschbecken neben der Tür, sonst nichts in dem Raum außer dem Bett; später, als ich mit dem Bett durch den Raum reite und dabei ein wahnsinniges Krachen und Scheppern erzeuge, werde ich noch eine Tür bemerken, zwei Türen, zwei Fenster, aber die Zeit scheint sich nicht zu bewegen in diesem Würfel, und bevor ich so durch den Raum reiten kann, dass sich kleine, kaum sichtbare Risse durch die Wände und die Türen und das Glas der Fenster und der Neonröhren ziehen werden, gewaltige Vibrationen, ich liege und warte, eine Stunde, zwei Stunden ... vielleicht auch nur dreißig Minuten, eine Stunde, anderthalb Stunden. Ich warte. Ich
versuche nachzudenken. Ich verstehe langsam, wo ich bin und warum ich bin, wo ich bin. Ich kann es noch nicht richtig greifen, eine dünne Eisschicht darüber in meinem Kopf, aber viele kleine und mittelgroße Fische stoßen schon von unten dagegen, ein kugeliges Aquarium, ich kann sie sehen als Schemen und Schatten, wenn ich die Augen schließe, und das Knirschen und Klirren des Eises in meinem Kopf, ich sehe einen Arzt, vollbärtig mit einer runden Brille, er erinnert mich an einen evangelischen Pfarrer, deswegen die Fische?, die Fische ergeben doch keinen Sinn, aber sie stoßen gegen das Eis. Ich friere. »Hatten Sie schon häufig die Absicht, Suizid zu begehen?«
    »Ich hatte noch nie die Absicht, Suizid zu begehen.«
    »Konsumieren Sie Drogen?«
    »Sie sind falsch informiert, ich hatte noch nie die Absicht, Suizid zu begehen.«
    »Leiden Sie unter Depressionen?«
    »Das ist ein Irrtum, ich würde nie auf die Idee kommen, Suizid ...«
    »Waren Sie schon einmal in Behandlung wegen ...« Der Ton ist weg, sein Mund bewegt sich, auf und zu, auf und zu, Blasen steigen zur Decke, und ich hasse diesen Pfaffen, ich stelle mir vor, wie ich seinen Bart mit beiden Händen packe und mit einem Geräusch wie beim Öffnen eines Klettverschlusses von seinen Backen reiße, die Haut darunter ist voller Blasen und Poren wie gekochte Hühnerhaut. Ich habe die Hände auf dem Rücken, während ich mit ihm spreche, irgendwo sind die Polizisten ...
    Ich drehe den Kopf und begutachte die Manschette, die meinen rechten Arm festhält. Ich muss sie loskriegen und den Pfaffen

Weitere Kostenlose Bücher