Das spröde Licht: Roman (German Edition)
wiederkehrenden Anfällen von Schwermut, die bei mir seit meiner Kindheit auftreten und die sowohl die Jungen als auch Sara hinnahmen, ohne sich zu beschweren, auch wenn sie überhaupt nicht verstanden, wie jemand plötzlich und ohne ersichtlichen Grund so still und düster werden konnte. Paradoxerweise habe ich im Laufe von Jacobos Leidensgeschichte das meiste dieser im Grunde lächerlichen Anfälle von Melancholie abgelegt. Das lange Leiden – seines, meines, das von uns allen – fegte die dichtesten und zähesten eingebildeten Spinnweben von meiner Seele und befreite mich fast vollkommen von der Schwermut.
Ich betrachtete das Bild mit dem Schaum der Fähre eine Zeitlang. Dann ging ich in den Fitnessraum und dachte darüber nach, was wohl aus all diesen Geräten würde. Die Hanteln und Federzüge mit ihrem Drum und Dran würde Pablo bestimmt behalten wollen, um in Form zu bleiben. Und die Hebevorrichtungen könnten wir vielleicht einem von Jacobos vielen Freunden schenken.
Er war einer, der immer viele Freunde hatte, Jacobo, und das änderte sich auch mit dem Unfall nicht, im Gegenteil. Außer von seinen alten Freunden bekam er jetzt auch Besuch von Leidensgefährten. Jeden Tag kamen welche, von unterschiedlichster Größe, Hautfarbe und Persönlichkeit, alle im Rollstuhl, und die meisten im verzweifelten Bemühen, so gut wie möglich mit den körperlichen Schmerzen fertigzuwerden, die sie ständig begleiteten. Jacobo hatte sie in diesen Selbsthilfegruppen kennengelernt, die in den USA so beliebt sind und die Sara und ich immer abgelehnt hatten, bis wir merkten, wie nützlich sie waren.
Einer seiner Leidensgefährten war ein Junge von etwa 18 Jahren, der außergewöhnlich gut aussah und von der Hüfte abwärts gelähmt war, genau wie Jacobo, in seinem Fall aber infolge einer Operation. Dieser Junge redete immer wie ein Arzt.
»Wie geht es Ihnen, Mr. David? Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich heiße Michael O’Neal.«
Ich gab ihm die Hand und fragte ihn, wie es bei ihm ginge.
»Gerade mal so, Mr. David«, sagte er, »gerade mal so. Mein Problem begann mit einer silentiösen Komplikation, der adhäsiven Arachnoiditis, die sich in 6 Bindestrich 16 Prozent der Fälle nach einer Lendenwirbeloperation oder einem Kontrolleingriff einstellen kann und aus der sich als zweite Komplikation eine Paraplegie ergibt. Allen Formen der Arachnoiditis gemeinsam ist das Symptom der anhaltenden Schmerzen im unteren Bereich der Wirbelsäule. Mich hatte man wegen eines Bandscheibenvorfalls in der Lumbalregion operiert, und daraus entwickelte sich, wie eine Diagnose per Magnetresonanztomographie ergab, die adhäsive Arachnoiditis, die die Cauda equina in Mitleidenschaft zog …«
»Das tut mir wahnsinnig leid, Michael«, sagte ich.
»Ganz meinerseits, Mr. David. Mit anderen Worten, ich bin querschnittsgelähmt, Mr. David, und die Ironie dabei ist, dass ich diese wahnsinnigen Schmerzen gerade in den Beinen spüre, obwohl ich doch in den Beinen gar kein Gefühl habe. Wenn man mir ein Messer ins Bein stieße, Mr. David, würde ich nichts spüren. Und trotzdem, sehen Sie, habe ich genau da diese Schmerzen, die mich nicht schlafen lassen«, sagte er zum Schluss und schwieg dann, von seinem Leiden überwältigt, und schaute durchs Fenster auf die Bäume des Friedhofs hinaus.
Nach dem Schulabschluss und zwei ›Wanderjahren‹ in Lateinamerika und Europa hatte ich an der Universidad de Antioquia in Medellín drei Jahre lang Medizin studiert und fand mich deshalb im Jargon der Ärzte einigermaßen zurecht. Nicht dass mir die Medizin missfallen hätte, im Gegenteil, doch die Leidenschaft für die Malerei war stärker. Alle rieten mir davon ab; ich hätte kein Talent, sagten sie.
»Es tut mir so leid, Michael«, wiederholte ich, und Jacobo, der ja unter denselben Schmerzen litt, sah mich mit seinen großen braunen, sehr intelligenten und glänzenden Augen an, die noch glänzender wirkten neben seinem dichten schwarzen Bart, den er sich damals stehen ließ. Er zwinkerte mir zu, als mache er sich über Michaels medizinisches Fachchinesisch lustig, aber ich glaube, er wollte mit dieser Geste eher Solidarität und Mitgefühl ausdrücken.
Die Fenster der Wohnung, die im zweiten Stock lag, zeigten auf einen historischen Friedhof mit dichtbelaubten Bäumen, ich glaube, das habe ich schon gesagt. Als wir herzogen, war das jüngste Grab das von Ellen Louise Wallace, gestorben 1975. James berichtete uns vier Jahre nach unserer
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