Das Steinbett
Hunger, und von dem Anblick der Bonbons lief ihr das Wasser im Munde zusammen.
»Vielleicht sind sie vergiftet«, meinte Fredriksson.
Lindell schälte ein Bonbon aus dem Papier. Normalerweise aß sie keine Süßigkeiten, aber jetzt konnte sie nicht widerstehen. Sie nahm noch eins und dann noch eins.
Fredriksson sah auf.
»Iß lieber was Richtiges.«
»Ich habe eigentlich gar keinen richtigen Hunger. Was Süßes war genau das, was ich jetzt brauchte.«
»Ich glaube, daß der Mensch mehr Bananen essen sollte«, sagte Fredriksson.
»Bananen«, lachte Lindell.
Sie hielt das Tagebuch in der Hand. Sie wußte, daß es darin Hinweise gab, denen man nachgehen konnte. Warum hatte Josefin begonnen, ein Tagebuch zu führen? Der innere Druck war wohl zu groß geworden, und sie mußte sich ihre Angst und Verzweiflung von der Seele schreiben. Was aber hatte sie erst geahnt und dann gewußt? Heute abend würde sie es vielleicht erfahren.
Als Lindell das Haus verließ, begegnete sie auf dem Hof Berglund und Haver. Sie sollten Fredriksson helfen.
»Zumindest bis zehn«, meinte Haver.
»Fahr lieber nach Hause zu deinen Frauen«, erwiderte Lindell.
Anfang Mai war Haver Vater einer kleinen Tochter geworden, aber er lächelte nur. Sie unterhielten sich kurz darüber, was bei der Besprechung im Präsidium herausgekommen war.
Lindell rief Ottosson an und teilte ihm mit, daß sie nicht mehr vorbeikommen würde. Sie hatte vor, das Tagebuch zu lesen.
Die Nachbarn waren inzwischen verschwunden. Die Straße lag verlassen da. Ein paar Wildenten flogen in einem weiten Bogen über das Haus, und es roch nach Sommer.
Irgend etwas stimmte hier nicht. Lindell dachte an Josefin Cederéns gepflegte Fingernägel. Überhaupt hatte sie selbst im Tod noch hübsch und adrett ausgesehen. Dann das Haus als Kontrast, das eindeutig schmutziger und unaufgeräumter war als allgemein üblich, richtiggehend dreckig. Sie schien eine Frau gewesen zu sein, die großen Wert auf ihr Äußeres legte, ihre Schränke waren erfüllt mit schönen und sicher teuren Kleidern. Sie nähte viel selbst und ließ sich von Modezeitschriften inspirieren, und ihr Schminktischchen war übersät mit allen denkbaren Döschen und Verpackungen.
Warum hatte sie nicht geputzt? Das Ehepaar Cederén hatte niemals jemanden zu sich nach Hause einladen können. Wie sah ihr Bekanntenkreis aus?
Lindell kam der Gedanke, noch einmal zu Josefins Vater zu fahren, aber dann beschloß sie, damit bis zum nächsten Tag zu warten.
Auf der Rückfahrt in die Stadt wurde ihr immer schlechter, und sie hielt bei McDonalds und holte sich einen Hamburger.
Sie schaffte es gerade noch bis nach Hause und in die Toilette, dann erbrach sie sich. Sie würgte über dem Toilettenbecken und verfluchte sich dafür, daß sie nicht besser auf sich achtete. Anschließend trank sie etwas Leitungswasser, spülte den Mund aus und legte die Stirn gegen das kühle Porzellan. Was für ein Tag. Gestern noch Schreibkram und eine Besprechung zur Neuorganisation der Polizei. Heute eine dezimierte Familie.
Holger Johanssons wunder Schädel kam ihr wieder in den Sinn. Hatte er ein Ekzem oder hatte er sich im Laufe des Tages die Haut aufgekratzt?
Das Tagebuch hatte sie im Flur auf den Fußboden geworfen. Sie stieg darüber und ging in die Küche. Der Nachrichtenknopf auf dem Anrufbeantworter blinkte, und sie drückte auf Abruf. Der erste Anruf kam aus Odeshög. Ann Lindell war bewußt, daß ihre Eltern nicht mehr die jüngsten waren und sie jederzeit mit einem Anruf rechnen mußte, in dem es um eine Krankheit, vielleicht sogar um den Tod ging. Aber diesmal waren es nur die üblichen Floskeln ihrer Mutter: »Wie geht es dir? Hier ist alles wie immer!«, ergänzt von ein paar Worten über den Garten und darüber, welche Blumen gerade blühten.
Die zweite Nachricht zwang sie in die Knie. Edvards Stimme klang, als käme sie aus einem anderen Zeitalter, von einem anderen Planeten. Sie kannte diese Stimme so gut, dennoch schien sie ihr fremd. »O Gott«, murmelte sie und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
Er klang gut gelaunt, und das ließ ihr Herz schneller schlagen. Sie starrte vor sich hin, als er über Gräsö sprach, Grüße von Viola bestellte und von seiner Arbeit erzählte. Gegen Ende der Nachricht sprach er leiser, seine Worte kamen zögerlicher, als wäre er sich nicht mehr sicher, wie er zum Ende kommen sollte. Schließlich ein hastiges Tschüß, dann war alles vorbei.
Gib auf, dachte sie, laß mich in
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