Das Steinbett
Ruhe. Sie spulte das Band zurück und hörte sich die Nachricht noch einmal an. Seine Stimme. Sie konnte ihn vor sich sehen, wie er am Fenster stand, die Bucht im Hintergrund, eine sonnige Schärenlandschaft. Oder aber er saß in seinem Korbsessel.
Er hatte von der Arbeit gesprochen, vor allem von der Arbeit. Es ging um die Reparatur einer Scheune. Wo kamen nur all diese Jobs her? Er schreinert, bricht und biegt, hebt und hebelt, kappt und paßt ein, lebt mit anderen, lacht und trinkt an eine rote Wand gelehnt Kaffee. Seine Hände. Verschrammt, voller Narben und manchmal so rauh, daß sie auf ihrem Rücken kratzten, manchmal mit Fingerkuppen, die so glattgewetzt waren, daß man keine verwertbaren Fingerabdrücke hätte nehmen können.
Sie konnte seine schweren Schritte auf der Treppe hören und wie er sich mit Viola unterhielt. Sie konnte seine Atemzüge spüren.
Ann Lindell zog das Telefon näher zu sich heran und wählte die Eins unter den gespeicherten Nummern. Ödeshög. Mutter und Vater.
»Ja, mir geht es gut, ich habe viel zu tun.«
Sie wollte nichts von den Cederéns erzählen. Ihre Mutter schwatzte munter weiter.
»Ja, vielleicht, aber im Moment gibt es so viel Arbeit.«
Die nächsten Nachbarn, Nisse und Ingegerd, hatten ein Enkelkind bekommen, einen Jungen, vier Kilo schwer. Während ihre Mutter erzählte, öffnete Lindell den Kühlschrank und schaute hinein.
»Im Juli und noch den halben August«, sagte sie und holte Margarine und Kaviarpaste heraus. »Ja, sicher, dann komme ich. Versprochen.«
Sie hatte kein Brot mehr im Haus.
»Ihr fehlt mir auch. Grüß Papa von mir.«
In der hintersten Ecke des Küchenschranks stand noch ein halbes Paket Knäckebrot. »Ballaststoffe«, murmelte sie und schmierte in schneller Folge vier Brote, bestrich sie mit Kaviarpaste, holte eine Milchtüte heraus und ging ins Wohnzimmer, kehrte in den Flur zurück und hob das Tagebuch vom Boden auf.
Jetzt war sie gerüstet. Ihr knurrte der Magen, und Kopfschmerzen attackierten sie. Sie aß ein paar Bissen und goß sich ein Glas Milch ein, eine Gewohnheit, die sie von Edvard übernommen hatte. Anschließend lehnte sie sich im Sessel zurück.
Das blaue Buch lag auf dem Tisch. Sie war neugierig, aber die Sache widerstrebte ihr auch. Josefin Cederén hatte nicht für ein Publikum geschrieben. Jetzt würde man ihre Aufzeichnungen bis zum letzten Komma durchforsten. All ihre Kleider, Fotos, Pillendosen und Mülleimer würde man durchsuchen, begutachten und bewerten. Lindell kaute, sah sich im Zimmer um und beschloß, in Zukunft öfter zu putzen.
Ein Tagebuch hatte sie nie geführt, nicht einmal in der Pubertät, und sie besaß auch nur einen Brief, den man als privat bezeichnen konnte. Er war von Edvard, geschrieben im Januar. Sie hatte die Insel und damit auch ihn nach den Weihnachtsfeiertagen verlassen. Sie war zu feige gewesen, es direkt auszusprechen, aber durch die Art und Weise ihres Verschwindens hatte sie ihm klargemacht, daß es ein Abschied für immer war.
Nach ein paar Wochen war ein Brief gekommen. Lindell hatte ihn mit zitternden Händen gelesen. Sie hatte nicht gewußt, daß Edvard so anschaulich berichten konnte. Sie hatte das Gefühl, daß alle Worte, die sich in seiner selbstgewählten Isolation aufgestaut hatten, nun aus ihm herausgesprudelt waren auf das Papier vor ihr. Allein die Tatsache, daß er überhaupt Briefpapier besaß, erstaunte sie, aber vermutlich hatte er es sich bei Viola geliehen.
Er schrieb, daß er sie liebe, aber daß es zu kompliziert sei, so weit entfernt voneinander zu leben. Jetzt wolle er sie nicht mehr sehen – als ob in Wahrheit nicht sie ihn verlassen hätte –, er wolle sich seiner Arbeit und seinen Söhnen widmen. Was für eine Neuigkeit. Jens und Jerker waren in den letzten zwei Jahren praktisch nie auf die Insel gekommen, und der Kontakt zu ihrem Vater war gelinde gesagt sporadisch gewesen.
Sie schaffte das letzte Brot nicht mehr, schleckte aber die Kaviarpaste ab. Jetzt war das Tagebuch an der Reihe.
Sie las eine halbe Stunde, ehe sie es wieder zuschlug. Es gab noch weitere fünfundzwanzig Seiten, aber sie hatte bereits ein denkbares Motiv dafür gefunden, warum Josefin Cederén überfahren worden war. Seltsamer war, daß auch Emily getötet worden war, denn Josefin hatte geschrieben, sie wisse trotz allem eines ganz genau: daß Sven-Erik Cederén seine Tochter über alles in der Welt liebte.
Im weiteren Verlauf des Abends mußte sie immer wieder an Edvard
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