Das Stockholm Oktavo
geheimnisvolles Privileg – bedeutend genug, um dafür ein Oktavo zu legen. Sie aber reden daher, als wäre das Mädchen der Topf auf einem Spieltisch unten im Saal.«
»Ich gewinne eben gern – so wie Sie auch!«, sagte ich und zog meinen Umhang aus.
»Ist das nicht Sinn des Spiels? Carlotta ist der Hauptgewinn: ein hübsches Vögelchen, ein gemachtes Nest, ein behütetes Heim und eine Zukunft im Amt.«
»Das klingt für mich nach einem Käfig.« Madame Sparv schob die sechs bekannten Karten zur Seite und legte aus. Der Geschwätzige musste es eilig gehabt haben, zu Wort zu kommen, denn er kam schon in der zweiten Runde.
»Die sechste Position. Der Geschwätzige. Wieder Stempelkissen! Sie haben viele Personen aus Handel und Gewerbe um sich. Der Geschwätzige redet und redet – entweder spricht er zu Ihnen oder über Sie. Sein Gerede hat hier viele mögliche Quellen und Themen. Die Karte ist schwer zu deuten. Aber es ist eine schöne Karte. Mir gefällt die Dame darauf. Und der Arm des Edelmanns liegt so liebevoll auf ihrer Schulter. Die Zahl Fünf steht für Veränderung und Bewegung. Die Personen scheinen es zu genießen.«
Ich nahm einen Schluck Bier aus dem Glas, das Katarina mir gebracht hatte. »Vermutlich wird der Leutnant einiges zu sagen haben, wenn er mich mit Carlotta im Arm sieht.«
Madame Sparv verdrehte die Augen. »Ich bin beeindruckt – Sie haben die Karten im Blut, Madame Sparv!«
»Nur weil ich sie lege. Um meiner Hellsichtigkeit willen. Denn ich habe herausgefunden, dass ich selbst die Karten genauso brauche wie jeder andere Suchende.« Eine Weile hörte man nur das Geräusch der blakenden Kerze. »Die Hellsichtigkeit wurde mir nicht in die Wiege gelegt – trotz meines Vornamens Sofia, der ›Weisheit‹ bedeutet. Und es war auch keine Gabe.« Sie nahm die Karten und schob sie zusammen. »Als kleines Mädchen liebte ich die Vorführungen der Gaukler, die durch die Lande zogen. Wann immer mein lieber Vater Zeit hatte, nahm er mich mit zu den Feuerschluckern, Jongleuren, Akrobaten und Zigeunerinnen. Eines Sommers waren mein Vater und ich besonders gespannt auf einen echten Schlangenbeschwörer, der von weit her aus dem Fernen Osten gekommen war. Der Gewölbekeller des Wirtshauses, wo diese Darbietungen stattfanden, war voll und von lautem Geplauder erfüllt. Mein Vater schob mich auf einen freien Stuhl ganz vorn, er selbst fand ein paar Reihen weiter hinten einen Platz. Dann ertönte das Blöken eines Horns und das Grollen einer Trommel. Aus dem Durchgang zur Küche trat der Schlangenbeschwörer – braun wie eine Walnuss, einen safrangelben Turban um den Kopf gewickelt, ein Gewand aus schön gestreiftem Stoff, der im Dämmerlicht schimmerte. Der Schlangenmann sprach gebrochen Französisch, das der Wirt nur schlecht übersetzte, aber Französisch war ja meine Muttersprache. Der Schlangenbeschwörer erklärte, Musik sei die Sprache, die allen Geschöpfen gemeinsam sei, und nun wolle er den König der Schlangen rufen,
›Le roi‹
, sagte er leise und fing an, auf einer langen, dünnen Flöte zu spielen. Und aus einem schwarzen Schilfkorb erhob sich eine dicke Albino-Schlange.
Mittlerweile wimmelte es in der Taverne nur so von Menschen, und der Raum vibrierte vor Angst, ich aber spürte davon nichts. Der Schlangenmann sah, dass ich ihn verstand, und wusste, dass ich im Bann seiner Vorführung stand. Er fragte, ob ich den König der Schlangen halten wolle, und ich nickte. Er hob den Albino zärtlich hoch, küsste ihn auf den Kopf und gab ihn mir. Er war überaus weich, und ich spürte die Kraft dieses Wesens, als es sich um meinen dünnen Arm wickelte. Die Schlange wurde ruhig und reglos, und wie der Schlangebeschwörer küsste auch ich das liebliche Tier auf den Kopf.
Aus der versammelten Menge rief jemand laut und nannte mich Eva, ein paar junge Männer meinten, ich solle doch die biblische Szene nachspielen. Alle lachten und klatschten, vielleicht waren sie erleichtert, dass jemand die Bibel erwähnt hatte. Jemand warf einen verschrumpelten Apfel nach vorn, er landete auf dem Tisch. Ein betrunkener Hausierer brüllte, ich solle mich nackt ausziehen. Mein Vater ging mit Zähnen und Klauen auf ihn los. Eine alte Frau fing an, die Namen Jesu und des Teufels zu rufen, während sie mit dem Finger auf den Fremdling zeigte – in der Taverne ging es zu wie auf einem Schlachtfeld. Der Schlangenmann raffte schnell seine Körbe zusammen und verschwand, in dem ganzen Gewühl unbemerkt, durch die
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