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Das Stockholm Oktavo

Das Stockholm Oktavo

Titel: Das Stockholm Oktavo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Engelmann
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Küche.
    Ich folgte ihm, um ihm seine Schlange zurückzugeben, doch er war bereits weg. Nur der fette Koch war in der Küche und buk Pasteten. Er warf mir kurz einen Blick zu und schrie, ich solle verschwinden, dann widmete er sich wieder seinem Teig. Doch dann hielt er inne und blickte mich noch einmal an, und dieses Mal sah er die Schlange, die sich um meine Handgelenke geringelt hatte. Mit mehlstaubigen Händen kam er langsam um den Tisch herum und schloss ganz ruhig die Tür zum Schankkeller. ›Ich habe viele Geschichten gehört, kleines Fräulein, und habe mich immer gefragt, ob sie wohl wahr sind.‹
    Ich dachte, er meine Eva und den Garten Eden und wolle die Gelegenheit nutzen, den König der Schlangen aus der Nähe zu sehen. Ich hielt ihm den Albino hin, dass er ihn berühren konnte. ›Keine Angst!‹, sagte ich. Und da sprang der Koch auf mich zu, riss mir die Schlange aus den Händen und warf das arme Geschöpf in einen Kessel, der an einem Spieß über dem Feuer hing. Der zischende Dampf und das Zucken der bleichen Schlange in dem sprudelnden Wasser verfolgen mich bis heute.
    ›Wir tunken die Brühe auf, wenn sie gar ist‹, flüsterte er in heller Aufregung, ›und dann haben wir Visionen. Meine Großmutter hat geschworen, es sei wahr. Wir werden sehen, kleines Fräulein, wir werden sehen!‹
    Die Schlange war nun tot und trieb in der brodelnden Brühe. Der dicke Koch riss ein Stück grobes Schwarzbrot ab, tunkte es in den Sud und gab es mir. Sein Umfang und seine grimmige Miene versperrten die Tür zum Schankraum. Ich konnte die Küche nicht verlassen, ohne von seinem Gericht zu kosten.
    ›Aber wollen Sie selbst denn nicht auch Visionen haben?‹, fragte ich, in der Hoffnung, entkommen zu können. Lächelnd verbeugte er sich vor mir wie der vornehmste Herr und wartete, bis ich das Brot in den Mund geschoben hatte und kaute. Es schmeckte weder nach Fegefeuer noch nach der eisigen Kälte des Jenseits, es war einfach nur feuchtes Schwarzbrot. Ich zwang mich zu einem Lächeln und zuckte mit den Schultern – ich wollte einfach nur weg. Der Koch trat lachend zur Seite. ›Verfluchtes Volksmärchen!‹, schnaubte er und stopfte sich ein Stück rohen Pastetenteig in den Mund. ›Ich wollte nur wissen, ob es wahr ist.‹ Ich stürzte zur Tür, griff nach dem eisernen Riegel, und dann wurde alles in dem Raum, alles in der Welt weiß.«
    Madame Sparvs oberes Zimmer war nun nur noch von einer einzigen Wandleuchte über dem Tisch und dem schwachen roten Feuerschein aus der Ofenklappe erhellt. Ich trank mein Glas in einem Zug aus. »Die weiße Welt – war das Ihre erste Vision?«
    »Weiß sehe ich immer als Erstes, es kommt vor der Vision«, sagte sie und rieb sich bei dieser Erinnerung beklommen die Hände. »Als ich wieder zu mir kam, hielt mich mein Vater im Arm, und die Wirtin drückte mir ein Tuch auf die Stirn, das sie in kaltes Wasser getaucht hatte. Der Koch hielt sich so weit von mir entfernt, wie er nur konnte, und als er seinen Teig ausrollte und sein Gebäck formte, zitterten seine Hände. Er wollte nicht in meine Nähe kommen, nicht einmal als mein Vater ihn bat, ihm zu helfen, mich die Treppe hinaufzutragen. Ich war zwar benommen, sagte aber zu meinem Vater, dass ich allein gehen könne, und füllte meine Lungen mit frischer Luft. Mein Vater war überzeugt, dass ich aus purer Aufregung ohnmächtig geworden war, doch als wir uns dem Riddarfjärden näherten, kam das gleißende Weiß wieder. Dieses Mal folgte eine Vision. Ich sah Wasser, glänzendes, rotschwarzes Wasser, und einen Konvoi Schiffe, der mit der Ebbe auslief. Die hohen, dunklen Masten zeichneten sich vor dem dämmernden Himmel ab, das Schlagen der Segel, als sie gefiert wurden, vertrieb einen Schwarm Möwen von den hohen Spieren und Wanten. Sie flogen vorwurfsvoll kreischend in einem Bogen vor rosigen Wolken vorbei und ließen mit ihren Flügelschlägen Wind aufkommen, einen Sturm, der mich zu Boden riss. Mein Vater rief mich vom Deck des am weitesten entfernten Schiffes, aber der Wind blies ihn außer Sicht und fegte dann durch die Straßen der Stadt wie ein Hurrikan. Und dann herrschte nur noch Stille.« Sie faltete ihre Hände vor sich auf dem Tisch und begutachtete sie eingehend. »Als ich wieder bei Sinnen war, erzählte ich meinem Vater, was ich gesehen hatte, doch er zog mich nur an sich und sagte, ich solle mich nicht quälen, den Wind könne man nicht stoppen. Am Martinstag desselben Jahres ertrank mein Vater. Er sollte

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