Das Stonehenge - Ritual
der Hand und führt sie durch den Raum, wo er rundherum riesige Kerzen entzündet. Die Schwärze weicht zurück, sie wird weggesaugt wie Wasser von heißem Sand. Der Raum neigt sich zur Seite. Ihre Knie geben nach, und sie spürt, wie ein ungutes Gefühl von Wärme ihren Körper durchdringt.
»Caitlyn!«
Sie hört seine Stimme, blechern und aus weiter Ferne, wie einen Ruf aus einem langen, dunklen Tunnel, während sie fällt.
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Die Kugel aus der Glock hat den Oberschenkel des Meisters durchschlagen. Er hat Glück gehabt. Als Berufssoldat weiß er über zwei einfache Tatsachen Bescheid: Zum einen gibt es keine nicht tödliche Schussverletzung. Wenn man eine Wunde lange genug bluten lässt, stirbt man daran. Zum anderen ist eine Handfeuerwaffe eigentlich nicht geeignet, um einen Gegner garantiert außer Gefecht zu setzen, es sei denn, man schießt ihm in den Schädel, ins Herz oder in die Wirbelsäule. Ansonsten gerät der Getroffene zwar erst einmal in Schock oder Panik, doch sobald er das überwunden hat, ist er wieder auf den Beinen und geht zum nächsten Angriff über. Und genau das hat er vor.
Er wischt das Blut weg und untersucht die Ein- und Ausschusslöcher. Sauber. Vorsichtig befühlt er die Regionen rund um die verletzte Stelle. Ein Geschoss mit niedriger Geschwindigkeit ergibt ein glattes Loch ohne große Auswirkungen auf das umgebende Gewebe. Er drückt die Seiten ein wenig zusammen und sieht, wie sich die Höhlung mit Blut füllt. Eine Waffe mit einem Hochgeschwindigkeitsgeschoss hätte vermutlich viel schlimmere Verletzungen verursacht.
Er drückt und stochert herum, bis er sicher ist, dass sich in der Wunde keine Splitter befinden und keine größeren Muskelmassen durch zerschmetterte Knochen zerfetzt wurden. Er versucht zu stehen, kann aber schlecht das Gleichgewicht halten. Auch fällt es ihm schwer, das Bein zu strecken und zu belasten. Er lehnt sich an die Wand, löst die Kordel, die ihm bis eben als Gürtel gedient hat, und bindet damit den Oberschenkel fest ab. Das ist nur eine kurzfristige Notlösung, aber erst einmal ausreichend.
Er riskiert Nervenschäden. Immer noch besser, als zu verbluten, denkt er. Sein Blick fällt auf die klebrige, mit Gehirnmasse durchsetzte Blutlache, die sich aus Dracos Kopf auf den Boden ergossen hat. Es erübrigt sich, nach Puls zu tasten. Aus dem Augenwinkel registriert er das flackernde Kerzenlicht in der Krypta. Er hört die Stimme seines Sohnes, der dem Mädchen zuruft, sich zu beeilen.
Der Meister taucht die Hände in die tiefen Taschen seines Gewands und tastet nach dem Opferhammer und dem Messer für die Zeremonie.
Genug, um sie aufzuhalten.
Genug, um das Ritual zu erfüllen.
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Gideon weicht nur ungern von der Seite der zuckenden, bewusstlos zusammengesunkenen Caitlyn. Mit hocherhobener Fackel dreht er eine schnelle Runde um die Krypta. Er muss Anhaltspunkte finden – irgendwelche Beweise dafür, dass er nicht einen tödlichen Fehler gemacht hat.
Aus den Dutzenden schräg aufgestellter Särge scheinen ihm leere Augen in hautlosen Schädeln zu folgen. Sie hängen sich an ihn wie Geister. Er spürt ihre flatterigen Hände auf seinem Nacken, kalt wie einen nächtlichen Schauder.
Die alten Ägypter sorgten dafür, dass die Toten, die sie ehrten, von ihren wertvollsten Besitztümern umgeben waren. Wie er nun feststellen kann, scheint es bei den Jüngern der Geheiligten ähnlich zu sein. Aber die Ägypter statteten ihre Gräber noch mit etwas anderem aus: geheimen Passagen ins Leben danach – langen Tunneln, die es den wiedergeborenen Königen erlaubten, aufzuerstehen und zu ihren Völkern zurückzukehren.
Gideon versucht sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was er über die Pyramiden weiß. Das bescheidene Bauwerk zu Ehren des jungen Pepi II . Die Stufenpyramide von Djoser. Sneferus Rote Pyramide. Und Gizeh, gebaut zweitausend Jahre vor Christi Geburt, also um dieselbe Zeit wie ein Teil von Stonehenge und kurz nach der Fertigstellung des Heiligtums. Die Große Pyramide hatte ähnliche Kammern wie die, die ihn gerade umgibt. Mysteriöse Schächte erstreckten sich aus den Kammern von Königen und Königinnen hinaus in die außerhalb gelegene Welt. Geheime Korridore gestatteten befreiten Geistern, in den Himmel zu flüchten.
Gideon verschiebt die Särge, bewegt dabei die Toten und hört ihre Knochen unzufrieden knarren. Mit Spinnweben bedeckte Skelette ächzen und krachen, während er hinter und auch unter den Särgen nach Falltüren oder
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