Das Stonehenge - Ritual
Volans’ Hilferufe zu hören.
Gideon hat einen Plan des Bauwerks im Kopf, der, wie er selbst weiß, nicht vollständig ist. Trotzdem ist dieser Plan alles, was sie haben. Der direkteste Fluchtweg verläuft seiner Meinung nach am Großen Gewölbe entlang, von dort auf den gewundenen Gang des äußeren Kreises und dann vorbei an der Kammer des Meisters. Auf diese Weise würden sie zu der steinernen Treppe und zum Lagerhaus-Ausgang kommen.
Aber das ist nicht die Richtung, die er einschlägt. Stattdessen folgt er einem Bauchgefühl. Einem, das ihnen das Leben retten wird. Oder sie das Leben kostet.
173
Zögernd tritt der Meister vor das Große Gewölbe und blickt sich um. Das Opfer sollte schon längst hier sein. Als er auf dem Gang Lärm hört, dreht er sich um und kehrt in den Raum zurück. Vier Träger rennen auf ihn zu. Ohne die Bahre.
»Sie ist weg«, ruft der eine, »das Mädchen ist aus ihrer Zelle verschwunden!«
»Und mein Sohn, wo ist der?«
»Ebenfalls verschwunden.« Diese Stimme ist die von Draco, der mit blutigen Händen auf den Meister zueilt. »Sie haben Musca getötet und Volans die Waffe abgenommen.«
»Blockiert den Hauptausgang«, weist der Meister sie an. »Vermutlich werden sie versuchen, über die steinernen Stufen in den Vorraum zu gelangen.« Brennende Scham überkommt ihn, dass er seinem Sohn vertraut und ihn sogar eigenhändig durchs Heiligtum geführt hat.
Draco schickt die Träger los. »Was ist mit dem Gang, der aus deinem Zimmer führt?«
Der Meister schüttelt den Kopf. »Von dem weiß er nichts, aber sichert ihn trotzdem.«
»Das übernehme ich selbst«, erklärt Draco und wählt zwei Männer aus, ehe er die anderen einweist, das Heiligtum abzusuchen.
Der Meister blickt in die Leere des Großen Gewölbes. Obwohl er die Unzufriedenheit der Götter spürt, bleibt er ruhig. Das Bauwerk ist eine Festung. Es bleibt noch genug Zeit, um das Mädchen wieder einzufangen und die Zeremonie vor dem ersten Licht zu vollenden.
174
Es gibt nur wenige Fackeln, und in dem kalten Labyrinth aus Gängen riecht es nach Feuchtigkeit und Tod.
Caitlyn klammert sich im Laufen an Gideon. Sie betet, dass er weiß, was er tut. Ihr eigener vergeblicher Fluchtversuch ist ihr noch ganz frisch im Gedächtnis.
Was ihr Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass sie sich abwärtsbewegen, immer tiefer hinein in dieses schreckliche Bauwerk, statt hinauf und hinaus in die Sicherheit der Welt da draußen. »Wir laufen in die falsche Richtung!«
»Vertrau mir!«, gibt ihr Gideon atemlos zur Antwort.
Caitlyn weiß, dass ihr gar nichts anderes übrigbleibt.
Während sie die dunklen Gänge entlangeilen, versucht Gideon krampfhaft, sich die Biegungen und Windungen des Heiligtums vorzustellen. Vor seinem geistigen Auge sieht er sie als eine Art vergrabene Pyramide, nur kuppelförmig. Er erinnert sich an die oberen Ebenen, den modernen, rein funktionalen Bereich. Die sorgfältig konstruierten, stützenden Kammern und Korridore. Darunter sieht er die Kammer des Meisters und das Große Gewölbe. Den Aufstieg und den Abstieg östlich und westlich davon. Er stellt sich vor, wie sie alle um den zentralen Sternschacht herumgebaut sind. Er denkt an die entsprechenden Punkte des Kompasses und der Konstellationen.
Nun stellt er sich den östlichen Gang vor, den Zugang zur untersten Ebene. Die Krypta der Alten. Zu diesem Ort sind sie unterwegs.
Die gewundenen und zugleich nach unten verlaufenden Korridore erinnern ihn erneut an ägyptische Gräber. Orte mit architektonischen Geheimnissen. Er muss an Cheops’ Große Pyramide mit ihren verborgenen Kammern und Gängen denken.
Er betet, dass auch das Heiligtum seine Geheimnisse hat. Die Sternschächte, die unterschiedliche Höhe der Gänge, der Aufstieg und der Abstieg, die geographische Ausrichtung – das alles sind Gründe dafür, dass er recht hat.
Vor einer verschlossenen Eisentür kommen sie zum Stehen.
»Rasch!« Er zieht die atemlose Caitlyn ganz nah an die Wand. »Setz dich hierher und bleib, wo du bist.«
Nachdem er ein paar Schritte zurückgegangen ist, dreht er sich um und betrachtet sie. »Weiter vor. Rutsch einen halben Meter in meine Richtung.«
Sie tut wie geheißen, zieht die klappernden Knie zur Brust hoch und zupft das lockere Opferungskleid zurecht.
»Gut. So passt es.« Er geht noch weiter zurück, bis um die Ecke des Durchgangs hinter ihnen, ehe er wieder auftaucht und sie eindringlich mustert.
»Bleib hier und rühr dich nicht von der Strecke.
Weitere Kostenlose Bücher