Aufruf zur Revolte
AUFRUF ZUR REVOLTE
Unter mir keuchte die Erdkugel in ihrem Schwung; ich hatte sie wie ein wildes Roß gepackt, mit riesigen Gliedern wühlt’ ich in ihren Mähnen und preßt’ ich ihre Rippen, das Haupt abwärts gewandt, die Haare flatternd über dem Abgrund; so ward ich geschleift. Da schrie ich in der Angst, und ich erwachte.
Georg Büchner, Dantons Tod, S. 45f.
Ein Hoch auf unsere Verdrängungsmechanismen! Das Geburtshoroskop der Masse im Konsumzeitalter scheint zu lauten: Sternzeichen Räumpanzer, Aszendent Schneepflug. Hartnäckig vermögen wir, den Abgrund, der sich vor uns auftut, immer aufs Neue zuzuschieben, mit Illusionsabfällen und Betäubungsmitteln aller Art: mit dem nächsten Sportgroßereignis oder einer neuen Terrorwarnung, mit abseitigen Debatten, Privatskandalen und Pseudoenthüllungen.
Dabei gibt es, was die Gesamtsituation angeht, gar nicht mehr sonderlich viel zu enthüllen.
Wir wissen, was wir wissen müssen.
Wir wissen: Das Hundertfache der durch reale Werte gedeckten Geldmenge befeuert eine zerstörerische wirtschaftliche Dynamik – und die seit 2007 anhaltende Weltwirtschaftskrise wird endgültig eskalieren, wenn diese Geldblase platzt.
Wir wissen: Die Art, wie wir als Spezies leben und wirtschaften, kann kein gutes Ende haben, weil das Ökosystem des Planeten bereits schwer angeschlagen ist und jeden Tag noch stärker unter Druck gerät. Wir dürfen die ersten Vorboten einer sich abzeichnenden Weltnaturkatastrophe bereits an den Ufern unserer Flüsse begrüßen.
Niemand würde ernstlich bestreiten, dass ein »Weiter so!« den sicheren Weg in ein globales Desaster bedeutet.
Wir wissen, dass da ein Abgrund ist.
Aber gerade dessen kaum zu erahnende Tiefe schiebt die kollektiven Verdrängungsmechanismen stets aufs Neue an, denn wir spüren: Wer einen zu tiefen Blick in diesen Graben tut, wird hineingesogen und lange fallen, bis er auf dem Boden der Wahrheit aufschlägt.
Also wenden wir den Blick ab, sobald wir es nach dem ersten Schrecken nur je vermögen. Explosion einer Bohrinsel? 750 Millionen Liter Öl fließen in den Golf von Mexiko? Vier Reaktorblöcke eines Atomkraftwerks gehen hoch? 200 Kilometer vom Großraum Tokio-Yokohama entfernt?
Ein Aufschrei, eine Schockwelle – dann morpht alles zurück in den glitzernden Morast sensationeller Nichtigkeiten. Niemand wird uns zwei Jahre später von jenen Folgen berichten, die bleiben. Schließlich haben Algen das Öl der Deepwater Horizon aufgefressen, und die Strahlenwerte in Tokio liegen stabil unterhalb jener Grenzwerte, die die japanische Regierung kurzerhand nach oben gesetzt hat. Außerdem steht jetzt der Grand Prix an oder ein islamistischer Anschlag.
Ein islamistischer Anschlag. Natürlich.
Alle Schätzungen – von der John-Hopkins-Universität bis zur NGO iraqbodycount – gehen übereinstimmend von mindestens 100.000 Kriegstoten im Irak seit 2003 aus. Was ist mit diesem Terror? Wollen wir uns weiterhin mit schlecht inszenierter Staatspanik über jene Terrorgefahr befassen, die uns aus der arabischen Welt droht – während wir von den missgebildeten Babys schweigen, die im Irak zur Welt kommen, weil dort von unseren NATO-Verbündeten massenhaft uranummantelte Munition verballert wurde?
Die Verlogenheit des öffentlichen Diskurses in diesem Land ist wahrlich atemberaubend. Medien und Politik empören sich unisono über die Brutalität Erdogans gegen Occupy Gezi in Istanbul. Das ist schön. Das ist richtig.
Der himmelschreiend brutale Polizeieinsatz gegen Blockupy in Frankfurt am Main am 1. Juni 2013 mit mehr als 400 Verletzten steht aber offensichtlich auf einem ganz anderen Blatt. Jedenfalls steht er nicht in der annähernden Ausführlichkeit in den Blättern der Tagespresse wie die Polizeiübergriffe weit hinten, in der Türkei.
Nun wollen wir keineswegs aussagen, dass die Qualität beider Vorgänge – in Frankfurt am Main wurde nicht geschossen, und die Intensität der Proteste war in Istanbul eine ungleich höhere! – in eins zu setzen wäre. Doch liegt so aufdringlich nahe, zwei brutale Polizeieinsätze gegen Blockupy hier und Occupy dort in einen Zusammenhang zu setzen, dass uns kaum glaublich erscheinen mag, dass es partout nicht geschieht.
Ja, die Verlogenheit des öffentlichen Diskurses in diesem Land ist atemberaubend.
Laut UNHCR sind alleine im Jahr 2011 über 1.500 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Insgesamt starben im gleichen Jahr an den EU-Außengrenzen mehr als 2.000 Menschen, so Pro Asyl.
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