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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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der niedrigen Gartenmauer stehen. Die Vorhänge waren immer noch zugezogen. Sie meinte, einen Schatten dahinter zu sehen. Sie verharrte ein paar Augenblicke, überzeugt, dass sie einander anschauten, nur der dünne blaue Vorhang zwischen ihnen. Dann ging sie weiter und nahm den Feldweg durch das überwucherte Gelände, der hinab zur Hauptstraße führte. Unterwegs hatte sie das Gefühl, ein paar Zentimeter über dem Gras zu schweben.
      Ungefähr hundert Meter von seinem Haus entfernt blieb Sue stehen. Die Gewissheit, mit der sie spürte, dass er sie vor seinem Haus stehen gesehen hatte und gleich die Tür öffnen und herausschauen würde, war unheimlich. Und dann tat er es. Sie stand dort mitten auf einem Stück Brachland, umgeben von Nesseln, Unkraut und Disteln und zeichnete sich vor dem Sonnenuntergang ab. Er ging bis zum Ende seines Gartenpfades, wandte seinen Kopf in ihre Richtung und öffnete langsam die Pforte.
     
     

* 46
    Kirsten
     
    Kirsten starrte aus dem Fenster auf die Landschaft hinter ihrem Spiegelbild. Die sanften, grünen Hügel der Cotswolds wichen bald dem fruchtbaren Tal von Evesham, wo die Gerste und der Weizen auf den Feldern reif für die Ernte schienen und die Bäume in den Plantagen am Hang voller Äpfel, Birnen und Pflaumen hingen.
      Dahinter kam die bebaute Landschaft der Midlands: Kühltürme, die wild wuchernde Monotonie der Sozialsiedlungen, Schrebergärten, Treibhäuser, eine Backsteinschule, ein Fußballplatz mit weißen Torpfosten. Als der Zug Birmingham erreichte und immer tiefer in den Moloch hineinschlich, bekam sie Beklemmungen und wurde nervös. Schließlich war dies ihre längste Reise seit Ewigkeiten, noch dazu reiste sie allein. Über ein Jahr hatte sie in einer bequemen, komfortablen familiären Umgebung gelebt und war nur zwischen der georgianischen Eleganz von Bath und der ländlichen Mittelmäßigkeit von Brierley Coombe gependelt.
      Jetzt war es grau und regnerisch und sie in Birmingham, einer großen, unwirtlichen Stadt mit Slums, Skinheads und Rassenunruhen. Glücklicherweise musste sie dort den Zug nicht verlassen. Sie hoffte, dass Sarah am Bahnhof sein würde, um sie abzuholen, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte.
      Nach einem zwanzigminütigen Halt fuhr der Zug weiter und rumpelte an gebogenen Betonüberführungen vorbei in ein weiteres bebautes Gebiet: verfallene Lagerhäuser mit verrosteten, zickzackförmigen Feuerleitern und dreckige, mit Kisten und Paletten voll gestapelte Fabrikhöfe, die anscheinend in jeder Stadt an den Bahngleisen lagen. Der Zug fuhr an einer stark befahrenen Einfallstraße entlang, an einem schmutzig braunen Kanal und einem Bahndamm aus dunklem Ziegelstein, der mit Graffiti verschmiert war. Als Nächstes flogen ein paar grüne Wiesen mit grasenden Kühen an den Fenstern vorbei, dann rumpelte der Zug in einem gleichmäßigen, einlullenden Tempo durch Derbyshire nach South Yorkshire mit den Schlackenhalden und stillstehenden Rädern der Grubenschächte, eine Landschaft, in der alles ehemals Grüne mit Tinte verschmiert worden zu sein schien, die jetzt im Regen zerfloss.
      Kirsten schloss die Augen und ließ sich vom Rumpeln des Zuges einsäuseln. Sie würde vielleicht ein oder zwei Tage bei Sarah bleiben, bis sie das Gefühl hatte, dass es Zeit war, zu gehen. Anders als sie ihren Eltern erzählt hatte, hatte sie Sarah nicht gefragt, ob sie freinehmen könnte. Kirsten würde ihr sagen, dass sie ein paar Tage allein in den Dales wandern wollte. Falls ihr das merkwürdig vorkommen sollte - schließlich hatte sie ja bereits das gesamte letzte Jahr auf dem Land verbracht, die meiste Zeit allein -, tja, dann konnte man nichts daran ändern. Doch Sarah würde ihr glauben. Es war erstaunlich, wie ihre Mitmenschen ihr nach dem Überfall beinahe jedes Wort glaubten.
      Als Sarah sie später am Abend vom Bahnhof abholte, hatte es aufgehört zu regnen. Für die Fahrt in das möblierte Zimmer gönnten sie sich den Luxus eines Taxis. Während der Fahrt sprach Sarah davon, wie froh sie sei, dass sich Kirsten entschieden hatte zurückzukommen, und wie sie zusammen nach einer Wohnung suchen würden, sobald sich Kirsten wieder orientiert hatte. Kirsten hörte zu und antwortete an den richtigen Stellen und schaute wie ein nervöser Vogel aus dem Fenster, während sie an den vertrauten Plätzen vorbeifuhren: dem hohen, weißen Universitätsturm, den Reihen der verrußten Backsteinhäuser des Studentenviertels, dem Park. Nach dem Regen glitzerte

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