Das Tal Bd. 7 - Die Jagd
angestrahlt von einem Licht, das von oben in die Gletscherspalte dringt. Ich erinnere mich, was Katie erzählt hat. Es muss hier eine Nebenhöhle geben. Dort hat sie Paul Forster entdeckt.
Wie durch ein Wunder habe ich meine Kamera dabei. Sie hängt an meinem Handgelenk. Es dauert eine Weile, bis meine eiskalten Finger es schaffen, sie anzuschalten. Das Licht, das sie spendet, kann man eigentlich vergessen, aber es ist besser als nichts. Immerhin gelingt es mir, mich so weit aufzurichten, dass ich auf die Knie komme. Die Kamera nach vorne gerichtet, krieche ich auf einen schwarzen Fleck links von mir zu.
Meine Hand tastet sich vorsichtig weiter und ich denke schon, dass da gar nichts ist, als ich ein Geräusch höre. Atemzüge, die so flach und röchelnd klingen, dass ich mich wundere, die Worte überhaupt zu verstehen.
»Ist da jemand? Hallo? Ist da jemand?«
Ich krieche näher und zucke zusammen, als ich an etwas stoße. Schuhe. Schwere Schuhe und noch etwas. Etwas Scharfes, Spitzes.
Steigeisen, schießt es mir durch den Kopf.
Und wieder dieses Röcheln, mein Puls schnellt nach oben und zum ersten Mal habe ich den Wunsch, in die Vergangenheit einzugreifen. Zum ersten Mal denke ich überhaupt darüber nach. Und weiß gleichzeitig, dass das unmöglich ist.
Mein Job bei der Sache ist wie immer der Beobachter. Meine Rolle ist klar definiert. Ich muss herausfinden, was in der Vergangenheit passiert ist, aber ich bin nicht befugt, sie zu ändern. Scheißjob.
Also bewege ich mich auf allen vieren vorwärts, darauf bedacht, meine Hände nicht zu lange auf dem eisigen Untergrund zu lassen, damit sie nicht festfrieren. Der Körper neben mir ist noch warm. Ich versuche, ihn zu wärmen, indem ich mich fest an ihn presse. Und tatsächlich habe ich das Gefühl, der andere wird ruhiger, das Röcheln wird schwächer, er atmet ruhiger.
Und dann habe ich das Gesicht vor mir. Nur wenige Zentimeter vor meinem eigenen. Paul Forster dreht den Kopf zur Seite, weil sogar das schwache Licht der Kamera ihn blendet. Aber ich erkenne ihn sofort.
Nicht weil er den Fotos ähnlich sieht oder ich die langen Haare wiedererkenne. Nein, es ist der Ausdruck in seinem Gesicht. Wach … und er lächelt.
»Was machst du da?«, flüstert er.
Mein Gehirn, benommen von der Kälte, der Müdigkeit und gleichzeitig im totalen Adrenalinrausch, begreift allmählich.
Er wird sterben. Vor meinen Augen. Jetzt und hier.
Er weiß es auch.
»Live and let die«, flüstert er.
Meine Antwort kommt sofort.
»James Bond 1973.«
Paul lacht und wird von einem Hustenanfall geschüttelt.
In mir zieht sich alles zusammen.
Er darf nicht sterben. Noch nicht. Ich muss ihn wach halten. Er darf nicht einschlafen.
»Scheißkalt hier, was?«
»Darauf kannst du einen lassen.«
Egal wie beschissen das alles hier ist, Paul ist jemand, den ich gern kennengelernt hätte. Nicht wie Milton, verbittert, vereinsamt, gebrochen. Sondern jemand, der nicht bereut.
»Wer bist du?«
Wer bin ich? Kommt darauf an, liegt mir auf der Zunge, doch stattdessen höre ich mich sagen:
»Ich bin Benjamin, Kathleens Sohn.«
»Kathleen …«, wiederholt er und ich glaube, er lächelt.
»Nur so eine Frage. Welches Jahr?«
»2013.«
»Du bist irre.«
»Bin ich.«
Er lacht. Es kostet ihn Mühe, aber er lacht.
»Ich dachte immer …« Pause. »Wenn man stirbt, sieht man seine Vergangenheit, aber ich … ich … das ist … die Zukunft.«
Ein Schwall Blut tritt aus seinem Mund und bringt ihn zum Husten. Jetzt erst geht mein Blick seinen Körper entlang. Begreife: Er liegt auf dem Rücken und die Axt, die zwischen seinen Schulterblättern steckt, gräbt sich immer tiefer in ihn hinein. Ich kann ihn nicht retten, aber vielleicht das Sterben erleichtern.
Vorsichtig packe ich seine Schultern und rede auf ihn ein: »Ich drehe dich einfach herum, okay. Pass auf. Ich zähle bis drei. Eins, zwei, drei …«
Paul Forster rührt sich nicht. Sein Körper ist so schwer … als sei er bereits tiefgefroren. Ich höre, wie sich endlich die Kleidung und das Plastik des Rucksacks vom Eis lösen, und schaffe es tatsächlich, dass er seitlich zum Liegen kommt. Behutsam löse ich den Rucksack von den Schultern.
Sein Atem hat ausgesetzt. Ich beginne zu zählen. Als ich bei dreißig angekommen bin, holt er wieder laut hörbar Luft.
Seine Augen werden weit, er schließt sie wieder. Ich fühle mich so hilflos. Ich kenne dieses Geräusch. Dieses nach dem letzten Atem ringende Röcheln. Genau so wie bei
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