Das Tal Bd. 7 - Die Jagd
die Entscheidung getroffen, oder?
Doch Paul hat noch etwas anderes gesagt. Dasselbe wie Tim Yellad. Macht nicht dieselben Fehler. Haltet zusammen. Dann gibt es eine Chance. Bin ich der Einzige, der das kapiert? Meine Freunde – sind sie es wirklich? Sie kehren mir den Rücken zu. Auch Chris. Sie haben mich dem Tal ausgeliefert. Allein bin ich so hilflos.
Ihr könnt es schaffen. Pauls flüsternde Stimme. Die Worte eines Sterbenden scheinen mehr Gewicht zu haben als die der Lebenden. Nächster Gedanke.
Weil sie die Erkenntnis haben, die uns fehlt?
Ja, ich glaube, ich kapiere es endlich.
Ich glaube nicht, dass man in ein Licht sieht, wenn man stirbt. Oder das Ende eines Tunnels vor sich hat. Wäre ja auch zu einfach.
Nein, ich glaube, man denkt: Okay, das war es also. So war mein Leben. Damit muss ich mich abfinden. Ich kann nichts mehr ändern, nichts rückgängig machen. Ich muss Frieden schließen. Und Paul hat seinen Frieden geschlossen, oder? Sonst wäre er nicht mit einem Lächeln gestorben.
Angst überfällt mich. Vor mir selbst. Vor meinen Gedanken. Es gibt keinen Grund dafür, denn ich lebe doch. Aber unter welchen Voraussetzungen? Allein bin ich nichts, nichts, nichts.
Weglaufen, Flucht – das war doch schon immer deine Stärke. Steh einfach auf und gehe ab. Ganz easy.
Aber da ist eine andere Macht. Sie scheint stärker als ich.
Ich war nicht dabei, als Mom starb. Nein, ich saß, einen Kaffee to Go in der Hand, vor dem Zimmer. Und ich habe den Raum nicht betreten. Und zwar nicht, weil Mom und Dad diese Unterhaltung führten, die ich damals nicht verstand, sondern weil ich keinen Bock hatte auf den Tod. Ich wollte ihm nicht ins Gesicht sehen. Und mal ganz ehrlich, als die Cops damals Ronnie abführten, dachte ich nicht wirklich: Scheiße, du bist daran schuld. Nein, ich war erleichtert. Ich dachte: Super, du bist raus aus der Sache. Und Ronnie – ich meine, er war doch immer cooler als ich. Er kannte sich aus. Er kam aus diesem Milieu. Ich nicht. Ich war der Sonnyboy anständiger Eltern aus der Middleclass.
Und Tom?
Es ist die Ehrlichkeit angesichts des Todes, die einem das Sterben erleichtert. Klar, ich habe genau gespürt, dass er dabei war abzudriften. Er hat mir unzählige Zeichen gegeben. So viele verzweifelte Versuche gemacht, dass ich Fragen stellen hätte müssen.
Unsterblichkeit. Auf so eine Idee wäre ich doch nie gekommen.
Okay, Benjamin. Schluss. Ende. Du stehst jetzt auf, gehst zurück zum College. Packst. Irgendwohin wird das Leben dich schon schicken. Es heißt doch immer, das Leben ist eine Reise mit ungewissem Ausgang.
Immer noch habe ich mich keinen Zentimeter bewegt.
Ich könnte ewig so liegen bleiben, wenn nicht …
Erde dringt in meinen Mund, die Nase. Sobald mir dies bewusst wird, halte ich es nicht länger aus. Ich schaffe es, mich umzudrehen, und – ich schlage die Augen auf.
Über mir die Wipfel von Bäumen.
Wäre alles um mich herum dunkel, echt, ich wäre happy. Nur das Gegenteil ist der Fall. Ein scheiß Vollmond hängt am Himmel. Und er leuchtet mir direkt ins Gesicht. Zeigt mir, wo ich mich befinde. Am Grabstein. An der Lichtung. Ich liege direkt neben einer der Grabstellen. Sie ist mit einem der weißen Kreuze markiert, die Rose und Julia hier errichtet haben. Und zu allem Überfluss ist sie auch noch mit Blumen geschmückt.
Das Böse, denke ich, ist nicht einfach nur brutal. Es trägt Züge von Zynismus, von Boshaftigkeit, von feinfühliger Raffinesse.
Meine Zähne klappern. Die Kälte des Todes hat sich über meine Knie und Ellbogen ausgebreitet und mein Fleisch in gefühllosen Marmor verwandelt. Die Beklemmung kriecht hoch zum Hals und stoppt kurz unterhalb des Adamapfels. Immer wenn ich schlucke, spüre ich einen Widerstand.
Der Tod erscheint mir leichter als die Unsterblichkeit. Er ist einfach die elegantere Lösung.
Ich drehe mich auf die linke Seite, damit ich mit dem rechten Bein zuerst aufstehe. Soll angeblich helfen, um einen guten Tag zu erleben. Der neue Tag, der mir bevorsteht.
Meine Hand greift nach meinem Hals. Erschrocken zucke ich zusammen. Ich fühle einen Widerstand. Etwas Raues, Hartes.
Ich versuche zu erkennen, was sich um meinen Hals schlingt. Bin nicht einmal sicher, dass es tatsächlich existiert.
Etwas zieht sich fest. Der Kragen meines Sweatshirts. Vergeblich versuche ich, mich zu befreien. Panik überfällt mich, während ich langsam begreife, worum es sich handelt.
Ein Strick.
Scheiße, um meinen Hals schlingt sich ein
Weitere Kostenlose Bücher