Das Tal der Hundertjährigen
Vaters schon oft am Bett eines Alten gesessen, der gar nicht oder nur aus Verpflichtung besucht wurde und dem sie willkommene
Gesellschaft war.
Es ist bereits das fünfte Mal, dass mein Vater innerhalb der letzten sechs Monate eingeliefert worden ist; seit nunmehr zehn
Jahren besteht diese traurige Regelmäßigkeit.
»Was läuft da gerade?«
Um nicht über das Thema Krankheit reden zu |17| müssen, erkundige ich mich nach dem Fernsehprogramm – der Fernseher läuft ununterbrochen, seit der ersten Minute, die mein
Vater in diesem Zimmer zugebracht hat. Discovery Channel beim Blutdruckmessen, das Sportmagazin beim Verabreichen der Antibiotika,
und während die Sonde gewechselt wird, ermittelt ein amerikanischer Detektiv in einem Mordfall. Das Programm absorbiert einen
Großteil des Interesses, das sein Körper einfordert: Sein Arm schmerzt, doch beim Anblick von Doris Day ist es halb so wild.
Man nimmt ihm Blut ab, aber was ist das schon, wenn der weiße Hai gerade in Südafrika einen Seelöwen verspeist. Meinem Vater
fällt das Atmen schwer, aber da ist dieser Soldat, dessen Frau getötet wurde, der mit dem Leben abgeschlossen hat und freiwillig
jeden Dienst übernimmt …
»Es läuft immer, was Ihr Vater schauen möchte«, antwortet die Pflegerin unbestimmt.
Als ich ihn dazu befragen will, sehe ich, dass er die Augen geschlossen hat.
»Er schläft … Dann werde ich jetzt mit dem Arzt sprechen, bis später.«
Im Flur schaue ich auf die Uhr: Fünfzehn Minuten habe ich durchgehalten.
Der Arzt ist gerade bei einem anderen Patienten. Ungeduldig gehe ich im Korridor auf und ab, ich |18| will ihn gleich, wenn er von seiner Visite kommt, abfangen, damit er sich ja nicht entzieht.
Die Gebrechlichkeit meiner Eltern macht mir zu schaffen. Ich hätte mir so gewünscht, dass wenigstens einer von beiden fit
geblieben wäre und die Zeit mit den Enkeln genießen könnte. Leider war ihnen dieses Glück nicht vergönnt. Sie sind beide in
einer ausgesprochen schlechten Verfassung. Mein Vater kann das Bett überhaupt nicht mehr verlassen. Meine Mutter schafft es
– mit fremder Hilfe – gerade noch bis zum Besuchersessel neben dem Bett. Da unsere Familie größenmäßig extrem überschaubar
ist, bleibt die Pflege meiner Eltern hauptsächlich mir überlassen.
Wenn einer von beiden im Koma läge, mich nicht mehr erkennen oder glauben würde, er wäre noch jung und lebte in Paris, würde
es mir möglicherweise leichter fallen, anderen die Pflege anzuvertrauen, und sie am Sonntag zu besuchen. Doch sie sind bei
klarem Verstand und wissen sehr genau, dass sie noch nie im Leben französischen Boden betreten haben. Hinzu kommt, dass sie
sich finanziell eher am unteren Limit bewegen: Abgesehen von der Wohnung, in der sie leben – und die ihnen ohne finanzielle
Unterstützung schon längst nicht mehr gehören würde –, und einer kläglichen Rente haben sie nichts. Nun, sie haben mich. Und
vor |19| allem haben sie einander. In einer Zeit, in der die Scheidungsrate von Jahr zu Jahr steigt, ist das keine Selbstverständlichkeit.
Dank des Fortschritts auf dem Gebiet der Medizin nimmt andererseits von Jahr zu Jahr die Anzahl alter Menschen zu, von denen
viele eine Betreuung benötigen. Für die Kinder, die durch Scheidungen und Trennungen oft für mehrere Menschen an verschiedenen
Orten gleichzeitig verantwortlich sind, wird es nicht unbedingt einfacher, die Pflege beider Elternteile zu gewährleisten,
sich um beide so zu kümmern, wie sie es in den meisten Fällen doch gern tun würden. Am Ende wird die Zeit wohl häufig nur
für einen Anruf reichen.
Der Arzt kommt. Ich will wissen, ob mein Vater transportfähig ist und nach Hause kann, oder ob er im Krankenhaus bleiben sollte.
Ich, der Erwachsene, inzwischen der Hüter meines Vaters, will mich rückversichern, will Sicherheiten und Garantien, die der
Arzt mir unmöglich geben kann.
[ Menü ]
|20| 4
Wie regeln das eigentlich die Kinder der Alten in Vilcabamba? Wenn die Leute dort älter als einhundertzwanzig werden, sind
ihre Kinder über neunzig. Allein die Vorstellung, dass mein Vater sich in seinem Zustand um seinen Vater kümmern müsste …
Eine Katastrophe. In dem Alter mag man es beinahe als Segen empfinden, Waise zu sein.
Würde unsereins hundertzwanzig oder hundertdreißig, gäbe es bestimmt auch keine Krankenversicherung mehr, die für uns aufkommen
würde. Unsere Ersparnisse wären längst aufgebraucht, und wir
Weitere Kostenlose Bücher