Das Tal der Hundertjährigen
würden vergeblich nach Filmen oder Büchern Ausschau halten, die
für Menschen unseres Alters interessant sind. Unsere Kinder wären schon im Greisenalter, und trotzdem hätten wir nach wie
vor die Sorge, dass sie ihr Leben nicht gemeistert bekommen und ihre Zukunft nicht gesichert sein könnte.
Bei Familienfeiern träfen wir auf eine Vielzahl unbekannter Gesichter. Bringt es heutzutage eine |21| Familie mit Großeltern, Eltern und Geschwistern bei einem Treffen auf, sagen wir mal, zwanzig Personen, müssten wir in dem
Fall schon mehr als hundert nahe Verwandte einladen. Ob der Einzelne bei den zahlreichen Großfamilien überhaupt noch Raum
fände und sich nicht von all der häuslichen Wärme erdrückt fühlte?
Alles würde sich in die Länge ziehen: das Arbeitsleben, die Wohnungssuche, das Eheleben, die Elternschaft. Man brauchte Geduld.
Viel Geduld. Und für den Durchschnittsbürger wäre das Erben wohl nur mehr eine Erinnerung aus längst vergangener Zeit.
Wie sähe die Wirtschaft aus? Eines ist sicher: anders. Man müsste strukturell komplett umdenken. Zahlreiche neue Dienstleistungen
würden entstehen, ein stetig wachsender Teil der Gesellschaft würde einem langsameren Rhythmus folgen. Vermutlich müsste man
eigene Viertel für die über Hundertjährigen bauen.
Vilcabamba ist nicht der einzige Ort auf Erden, wo Menschen ein Jahrhundert überdauern. Auch im Hunzatal, in Abchasien und
in Ogimi werden die Menschen unerhört alt. Und an jedem dieser Orte hat man seine eigene Erklärung für das hohe Lebensalter.
Das von wunderschönen Gletschern umgebene |22| Tal der Hunza befindet sich im Norden Pakistans, im Himalaya. Die Region ist bekannt für ihre Fülle an Aprikosenbäumen, die
Bewohner der Ebene dafür, dass sie die Früchte in allen denkbaren Varianten verzehren, frisch und getrocknet. Sie stellen
Aprikosenmarmelade her, und Aprikosenöl, das sie zum Kochen und zum Würzen von Salaten verwenden. Die Kerne, süße und bittere,
essen sie wie Mandeln. Die Hunzukuc sind der Überzeugung, dass die Aprikose sie jung hält und vor Arthritis und Krebs schützt.
Abchasien gehört zur Republik Georgien und umfasst die Kaukasusregion an der Ostküste des Schwarzen Meeres. Die Bewohner Abchasiens
schreiben ihre Langlebigkeit unter anderem dem reichlichen Verzehr von Joghurt zu. Zu den beliebtesten Speisen zählt die Joghurtsuppe.
Es wird überliefert, dass Shirali Muslimow, der legendäre Schafhirte aus dem benachbarten Aserbaidschan, sie bis zu seinem
einhundertachtundsechzigsten Lebensjahr täglich zu sich nahm. Seine letzte Frau, die er angeblich als Hundertsechsunddreißigjähriger
noch erobert und geschwängert hatte, bereitete ihm, so heißt es, das Mahl tagein, tagaus zu.
Während der Stalin-Ära wurde Shiralis langes Leben zum Symbol. Stalin war in Georgien geboren, sie stammten also gewissermaßen
aus derselben |23| Region, und das war dem Diktator eine Briefmarke wert: Er ließ eine Serie mit dem Konterfei des betagten Mannes drucken, damit
die frohe Kunde sich im ganzen Land verbreitete.
Ein verführerischer Gedanke kommt mir: Man könnte am Beispiel der Hundertjährigen in Abchasien eine Art Handbuch mit dem Titel
Wie werde ich einhundertfünfzig? Rezepte für ein langes Leben
verfassen. Doch ich verwerfe die Idee wieder, denn die Abchasier ernähren sich nach eigenen Aussagen von Eiern, Käse und Butter,
Nahrungsmitteln also mit einem hohen Cholesteringehalt. Außerdem essen sie mit Vorliebe rotes Fleisch: Lamm und Schaf. Soja?
Weit gefehlt: Wir sprechen hier von reinem, tierischem Fett. Auch naschen sie ohne schlechtes Gewissen mit Honig gesüßte Leckereien.
Die Bewohner Ogimis – ein Dorf im Norden der zu Japan gehörenden Insel Okinawa – haben andere Überzeugungen: Für sie ist ihr
hohes Alter in erster Linie das Ergebnis eines spirituellen und ruhigen Lebens. Und der natürlichen Ernährung. Vor allem die
Goya-Gurke, die reich an Vitamin C ist, steht täglich auf dem Speiseplan. Sie bauen ihr Gemüse im eigenen Garten an und fügen den frugalen Mahlzeiten mittags
und abends Meeresalgen hinzu. Sie pflegen ein reges Gemeinschaftsleben, |24| an dem die Alten aktiv beteiligt sind. Jungsein war in Ogimi nie in Mode.
Sieht man von dem tadellosen, gesundheitsbewussten Verhalten der Bewohner von Ogimi einmal ab, müssen die Ernährungsgewohnheiten
der in Abchasien, Vilcabamba und Hunza Ansässigen im Verhältnis zu ihrem hohen Alter einen tiefen
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