Das Tao der Physik
Schlingen. Wörter benutzt man, um Gedanken zu
übermitteln, aber wenn die Gedanken erfaßt sind, vergessen die
Menschen die Wörter. 2
Im Westen drückte der Semantiker Alfred Korzybski mit seinem wirkungsvollen Ausspruch »Die Landkarte ist nicht das
Land« genau das gleiche aus.
Die östlichen Mystiker beschäftigen sich mit einer Erfahrung
der Wirklichkeit, die nicht nur das intellektuelle Denken, sondern auch die Sinneswahrnehmungen durchdringt. In den Worten der Upanischaden:
Wer das verehrt, was ohne Laut ist, ohne Gefühl, ohne Farbe, ohne
Veränderung, ohne Geschmack, ewig, ohne Geruch, ohne Anfang
und ohne Ende, was höher ist als das große (Selbst) und unverrückbar, der wird aus dem Rachen des Todes befreit. 3
Aus solch einer Erfahrung stammendes Wissen nennen die
Buddhisten »absolutes Wissen«, weil es sich nicht auf die Unterscheidungen, Abstraktionen und Klassifikationen des Intellekts verläßt, welche, wie wir gesehen haben, immer nur relativ
und approximativ sind. Es ist, so sagen uns die Buddhisten, die
direkte Erfahrung des undifferenzierten, ungeteilten, unbestimmten »So-Seins«. Das vollständige Begreifen dieses SoSeins ist nicht nur der Kern der östlichen Mystik, sondern auch
das zentrale Merkmal aller mystischen Erfahrung.
Die östlichen Mystiker bestehen immer wieder darauf, daß
die letzte Wirklichkeit niemals ein Objekt logischen Folgerns
oder demonstrierbaren Wissens sein kann. Sie kann niemals
mit Wörtern angemessen beschrieben werden, da sie jenseits
des Reiches der Sinne und des Intellekts liegt, aus dem unsere
Worte und Begriffe stammen. Die Upanischaden sagen darüber aus:
Dorthin dringt nicht das Auge,
nicht die Stimme, nicht der Geist.
Wir wissen nicht, wir verstehen nicht,
wie man das lehren könnte. 4
Lao-tzu, der diese Realität das Tao nennt, behauptet das gleiche in der ersten Zeile des Tao Te Ching: »Das Tao, das ausgedrückt werden kann, ist nicht das ewige Tao.« Die aus jeder
Zeitungslektüre hervorgehende Tatsache, daß die Menschheit
in den letzten zweitausend Jahren nicht viel weiser geworden
ist, trotz der erstaunlichen Zunahme des rationalen Wissens, ist
ein zureichender Beweis für die Unmöglichkeit, absolutes Wissen durch Worte zu übermitteln. Wie Chuang-tzu sagte:
»Wenn es möglich wäre, darüber zu sprechen, hätte es jeder
seinem Bruder erzählt.« 5
Absolutes Wissen ist somit eine völlig nicht-intellektuelle
Erfahrung der Wirklichkeit, eine Erfahrung, die in einem ungewöhnlichen
Bewußtseinszustand auftritt, die man einen
»meditativen« oder mystischen Zustand nennen kann. Die Existenz eines solchen Zustands wurde nicht nur von zahlreichen
Mystikern des Ostens und des Westens, sondern auch von der
psychologischen
Forschung bestätigt. Mit den Worten von
William James:
Unser normales, waches Bewußtsein, das rationale Bewußtsein, wie
wir es nennen, ist nur ein spezieller Typ von Bewußtsein, während
überall herum, jenseits feinster Trennungswände, völlig verschiedene potentielle Formen von Bewußtsein liegen. 6
Obwohl Physiker sich hauptsächlich mit dem rationalen Wissen
befassen und Mystiker mit dem intuitiven Wissen, erscheinen
beide Arten des Wissens in beiden Gebieten. Dies wird klar,
wenn wir prüfen, wie Wissen zustandekommt und wie es in der
Physik und in der östlichen Mystik ausgedrückt wird.
In der Physik wird Wissen durch wissenschaftliche Forschung
erworben, die in drei Stadien abläuft. Das erste besteht aus dem
Sammeln experimenteller Ergebnisse über die Phänomene, die
erklärt werden sollen. Im zweiten Stadium werden die experimentellen Tatsachen mit mathematischen Symbolen in Verbindung gebracht, und ein mathematisches Schema wird ausgearbeitet, welches diese Symbole auf präzise und folgerichtige
Art verknüpft. Ein solches Schema nennt man gewöhnlich ein
»mathematisches Modell«, oder, wenn es umfassender ist, eine
Theorie. Dann wird diese Theorie angewandt, um die Resultate
weiterer Experimente vorauszusagen, die angestellt werden,
um alle Implikationen zu prüfen. In diesem Stadium sind die
Physiker
vielfach
zufrieden, wenn sie ein
mathematisches
Schema gefunden haben und wissen, wie es anzuwenden ist, um
Experimente vorauszusagen. Aber irgendwann wird dann der
Wunsch auftreten, mit Nichtphysikern über ihre Resultate zu
sprechen, und da müssen sie sich dann in gewöhnlicher Sprache
ausdrücken. Das bedeutet, sie müssen ein Modell in gewöhnlicher Sprache formulieren, welches ihr mathematisches
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