Das Tao der Physik
Atoms und von dessen Bestandteilen
im zwanzigsten Jahrhundert enthüllte eine unerwartete Begrenzung der klassischen Vorstellungen und machte eine radikale Revision vieler unserer Grundbegriffe erforderlich. Zum
Beispiel ist der Begriff »Materie« in der subatomaren Physik
völlig anders als die traditionelle Auffassung von einer materiellen Substanz in der klassischen Physik. Das gleiche gilt für
Begriffe wie Raum, Zeit oder Ursache und Wirkung. Diese Begriffe liegen jedoch unserer ganzen Weltanschauung zugrunde,
und mit ihrer radikalen Umwandlung begann sich auch diese zu
ändern.
In den letzten Jahrzehnten haben Physiker und Philosophen
diesen von der modernen Physik bewirkten Wandel ausgiebig
diskutiert, doch sehr selten stellte man fest, daß alle diese Anderungen offenbar in die gleiche Richtung führen, nämlich zu
einer Ansicht von der Welt, die den Anschauungen der östlichen Mystik stark ähnelt. Die Begriffe der modernen Physik
zeigen oft überraschende Parallelen zu den Vorstellungen, die
in den religions-philosophischen Systemen des Fernen Ostens
zum Ausdruck kommen. Obwohl diese Parallelen bisher noch
nicht ausführlich erörtert wurden, haben sie doch einige der
größten Physiker unseres Jahrhunderts zur Kenntnis genommen, wenn sie auf ihren Vortragsreisen nach Indien, China und
Japan mit fernöstlichen Kulturen in Berührung kamen. Die folgenden drei Zitate mögen als Beispiele dienen:
Die allgemeinen Vorstellungen über die menschliche
Erkenntnis . . ., wie sie durch die Entdeckungen der
Atomphysik anschaulich werden, sind nicht ganz fremd
oder unerhört. Sogar in unserer eigenen Kultur haben
sie ihre Geschichte, und im buddhistischen oder hinduistischen Denken nehmen sie einen noch bedeutenderen
Platz ein. Sie setzen Beispiele für, bestätigen und verfeinern
die alte Weisheit. 1
Julius Robert Oppenheimer
Um zur Lehre der Atomtheorie eine Parallele zu finden . . .
müssen wir uns den erkenntnistheoretischen Problemen
zuwenden, mit denen sich bereits Denker wie Buddha
und Lao-tzu auseinandersetzten, wenn wir einen Ausgleich
schaffen wollen zwischen unserer Position als Zuschauer
und Akteure im großen Drama des Daseins. 2
Niels Bohr
Z. B. könnte der große wissenschaftliche Beitrag in der
theoretischen Physik, der seit dem letzten Krieg von
Japan geleistet worden ist, als Anzeichen für gewisse
Beziehungen zwischen den überlieferten Ideen des Fernen
Ostens und der philosophischen Substanz der Quantentheorie angesehen werden. 3
Werner Heisenberg
Der Zweck dieses Buches ist die Erforschung dieses Zusammenhangs zwischen den Begriffen der modernen Physik und
den Grundprinzipien der fernöstlichen philosophischen und religiösen Traditionen. Wir werden sehen, wie die beiden Fundamente der Physik des zwanzigsten Jahrhunderts - Quantentheorie und Relativitätstheorie - uns zwingen, die Welt auf sehr
ähnliche Weise zu sehen, wie ein Hindu, Buddhist oder Taoist
sie sieht, und wie sich diese Ähnlichkeit noch verstärkt, wenn
wir die jüngsten Versuche betrachten, diese beiden Theorien
zwecks Beschreibung der Phänomene des Submikrokosmos zu
kombinieren: die Eigenschaften und Wechselwirkungen subatomarer Teilchen, aus denen sich jede Materie zusammensetzt. Hier sind die Parallelen zwischen moderner Physik und
östlicher Mystik am auffallendsten, und wir werden oft Aussagen begegnen, bei denen es fast unmöglich ist zu sagen, ob sie
von Physikern oder östlichen Mystikern gemacht wurden.
Mit »östlicher Mystik« meine ich die religiösen Traditionen
des Hinduismus, Buddhismus und Taoismus. Obwohl diese
eine große Anzahl subtil miteinander verwobener geistiger
Disziplinen und philosophischer Systeme umfassen, sind die
Grundzüge ihrer Weltanschauung die gleichen. Diese Ansicht
ist nicht auf den Osten beschränkt, man findet sie bis zu einem
gewissen Grad in allen mystisch orientierten Philosophien. Das
Thema dieses Buches könnte daher allgemein so umschrieben
werden: Die moderne Physik führt uns zu einer Anschauung
der Welt, die den Ansichten der Mystiker aller Zeitalter und
Traditionen sehr ähnlich ist.
Mystische Traditionen gibt es in allen Religionen, und mystische Elemente findet man in vielen Schulen westlicher Philosophie. Die Parallelen zur modernen Physik erscheinen nicht nur
in den Veden des Hinduismus, im / Ching oder in den buddhistischen Sutras, sondern auch in den Fragmenten des Heraklit,
im Sufismus des Ibn Arabi und in den Lehren des Yaqui-Zauberers Don Juan. Der Unterschied
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