Das Tao der Physik
Niels Bohr den Begriff der
Komplementarität eingeführt. Er betrachtet das Teilchenbild
und das Wellenbild als zwei komplementäre, d. h. sich ergänzende, Beschreibungen derselben Realität, jede davon ist nur
teilweise richtig und hat einen begrenzten Anwendungsbereich. Für die volle Beschreibung der atomaren Wirklichkeit
werden beide Bilder benötigt, und beide sind in den vom Unsicherheitsprinzip gegebenen Grenzen anzuwenden.
Dieser Begriff der Komplementarität wurde für die Physik zu
einem wesentlichen Bestandteil ihrer Anschauung der Natur,
und Bohr hat oft bemerkt, daß er auch außerhalb der Physik
nützlich sein könne. In der Tat spielte er schon vor zweitausendfünfhundert Jahren eine wesentliche Rolle in der alten
chinesischen Gedankenwelt, die auf der Einsicht beruhte, daß
gegenteilige Begriffe in polarer - oder komplementärer - Beziehung zueinander stehen. Die chinesischen Weisen stellten
diese Komplementarität von Gegensätzen durch die archetypischen Pole Yin und Yang dar. Ihre Dynamik liegt allen Naturphänomenen und allen menschlichen Situationen zugrunde.
Niels Bohr war sich der Parallele zwischen seinem Begriff der
Komplementarität und der chinesischen Gedankenwelt wohl
bewußt. Als er 1937 China besuchte, als seine Deutung der
Quantentheorie schon ausgearbeitet war, wurde er von dem alten chinesischen Begriff der polaren Gegensätze tief beeindruckt, und von der Zeit an behielt er Interesse an der östlichen
Kultur. Zehn Jahre später wurde Bohr geadelt, als Anerkennung seiner außergewöhnlichen wissenschaftlichen Leistungen
und seines wichtigen Beitrags zum kulturellen Leben Dänemarks. Als er ein geeignetes Motiv für sein Wappen suchte, fiel
seine Wahl auf das chinesische Symbol für t'ai chi, das die komplementäre Beziehung der Gegensätze Yin und Yang darstellt.
Mit der Wahl dieses Symbols für sein Wappen und mit der Inschrift »Contraria sunt complementa« erkannte Niels die profunde Harmonie zwischen alter östlicher Weisheit und moderner westlicher Wissenschaft an.
Niels Sohn Wappen
Aus dem Gedenkbuch Niels Bohr, hrsg. von S. Rozental (North-Holland
Publishing Company, Amsterdam 1967)
Raum-Zeit 12
Unsere Begriffe von Raum und Zeit stehen auf unserer Landkarte der Wirklichkeit an wichtiger Stelle. Sie dienen zum Ordnen der Dinge und Vorgänge in unserer Umgebung und sind
daher nicht nur in unserem täglichen Leben von überragender
Bedeutung, sondern auch bei unseren Versuchen, die Natur
durch Wissenschaft und Philosophie zu begreifen.
Die klassische Physik basiert auf der Vorstellung eines absoluten, dreidimensionalen Raumes, der von den darin enthaltenen Objekten unabhängig ist und den Gesetzen der Geometrie
nach Euklid gehorcht, und auf dem Begriff von der Zeit als einer selbständigen Dimension, die ebenfalls absolut gleichmäßig
fließend von der Welt der Materie unabhängig ist. Im Westen
waren diese Begriffe von Raum und Zeit im Gehirn der Philosophen und Wissenschaftler so tief verwurzelt, daß sie als wahre
und unbestrittene Eigenschaften der Natur aufgefaßt wurden.
Der Glaube, daß Geometrie in der Natur selbst liege und
nicht ein Teil des Gerüsts ist, das wir zur Beschreibung der Natur benutzen, entspringt der griechischen Gedankenwelt. Die
darstellende Geometrie stand im Mittelpunkt der griechischen
Mathematik und hatte starken Einfluß auf die griechische Philosophie. Das Tor von Platos Akademie in Athen soll die Inschrift getragen haben: »Nur wer die Geometrie beherrscht,
findet hier Einlaß.« Die Griechen glaubten, daß ihre mathematischen Theoreme Ausdruck ewiger und exakter Wahrheiten
über die reale Welt waren und daß geometrische Formen Ausdruck absoluter Schönheit seien. Geometrie wurde als die perfekte Kombination von Logik und Schönheit betrachtet, und
man glaubte, daß sie göttlichen Ursprungs sei. Daher kommt
Platos Wort: »Gott ist ein Geometer.«
Da die Geometrie als Offenbarung Gottes angesehen wurde,
war es für die Griechen selbstverständlich, daß der Himmel
perfekte geometrische Formen aufweist. Das bedeutet, daß die
Himmelskörper sich in Kreisen zu bewegen haben. Um das Bild
noch geometrischer darzustellen, glaubte man, sie seien auf einer Reihe konzentrischer Kristallsphären befestigt, welche sich
als ganze, mit der Erde im Mittelpunkt, bewegten.
In den folgenden Jahrhunderten übte die griechische Geometrie weiter einen starken Einfluß auf die westliche Philosophie und Wissenschaft aus. Euklids Elemente war bis zu
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