Das Tao der Physik
Beginn
dieses Jahrhunderts ein Standardbuch an europäischen Schulen, und Euklidische Geometrie galt für mehr als zweitausend
Jahre als die wahre Natur des Raumes. Erst Einstein bewies,
daß Geometrie nicht in der Natur steckt, sondern eine Konstruktion des menschlichen Verstandes ist.
Im Gegensatz zu den Griechen wußte die östliche Philosophie immer schon, daß Raum und Zeit vom Intellekt konstruiert waren. Die östlichen Mystiker behandelten sie wie alle anderen intellektuellen Begriffe als relativ, begrenzt und illusorisch. In einem buddhistischen Text finden wir zum Beispiel die
Worte:
Der Buddha lehret, o Mönche, daß . . . die Vergangenheit, die
Zukunft, physikalischer Raum . . . und Individuen nichts als Namen, Wörter des allgemeinen Gebrauchs, lediglich oberflächliche
Realitäten sind. 1
So erhielt die Geometrie im Fernen Osten niemals den Status,
den sie im alten Griechenland hatte, obwohl dies nicht bedeutet, daß die Inder und Chinesen wenig von ihr wußten. Sie benutzten sie vielfach zum Bau von Altären mit präzisen geometrischen Formen, zum Vermessen des Landes und zur Herstellung von Himmelskarten, aber nie, um abstrakte und ewige
Wahrheiten festzulegen. Diese philosophische Haltung wird
auch durch die Tatsache wiedergegeben, daß die alte östliche
Wissenschaft es im allgemeinen nicht für nötig hielt, die Natur
in ein Schema von geraden Linien und perfekten Kreisen zu
pressen. In
diesem Zusammenhang sind Joseph Needhams
Bemerkungen über chinesische Astronomie sehr interessant:
Die chinesischen [Astronomen] hatten kein Bedürfnis nach geometrischen Formen der Erklärung - die Bestandteile des universellen
Organismus folgen entsprechend ihrer eigenen Natur jeweils ihrem
Tao, und
ihre
Bewegungen können mit der im wesentlichen
»nicht-darstellenden« Form von Algebra erfaßt werden. Die Chinesen waren somit frei von der Besessenheit europäischer Astronomen mit dem Kreis als der vollkommensten Figur . . . sie haben
auch nicht das
mittelalterliche Gefängnis der
Kristallsphären
erlebt. 2
Somit hatten die alten östlichen Philosophen und Wissenschaftler schon die für die Relativitätstheorie so grundlegende Einstellung, daß unsere Vorstellung von der Geometrie keine
absolute unveränderliche Eigenschaft der Natur ist.
Das gleiche gilt für unseren Zeitbegriff. Die Östlichen Mystiker verbinden die Begriffe von Raum und Zeit mit bestimmten
Bewußtseinszustanden, die sie mithilfe der Meditation überschreiten können. Ihre aufgrund der mystischen Erfahrung verfeinerten Begriffe von Raum und Zeit sind in vieler Hinsicht
denen der modernen Physik ähnlich.
Worin besteht nun diese neue Ansicht von Raum und Zeit, die
aus der Relativitätstheorie aufstieg? Sie basiert auf der Entdekkung, daß alle Raum- und Zeitmessungen relativ sind. Die Relativität räumlicher Bestimmungen war natürlich nichts Neues.
Es war schon vor Einstein bekannt, daß der Aufenthaltsort eines Objektes im Raum nur in bezug auf irgendein anderes Objekt angegeben werden kann. Das erfolgt gewöhnlich mithilfe
von drei Koordinaten, und der Ursprung der Koordinaten kann
»Aufenthaltsort des Beobachters« genannt werden.
Um die Relativität solcher Koordinaten zu veranschaulichen, stelle man sich zwei im Raum schwebende Beobachter
vor, die einen Schirm beobachten (s. Abbildung). Beobachter
A sieht den Schirm zu seiner Linken und leicht geneigt, das
obere Ende näher zu sich. Beobachter B sieht den Schirm zu
seiner Rechten und das obere Ende weiter von sich entfernt.
Erweitert man dieses zweidimensionale Beispiel auf drei Dimensionen, so wird klar, daß alle räumlichen Angaben wie
»links«, »rechts«, »oben«, »unten«, »schräg« etc. von der Position des Beobachters abhängen und somit relativ sind. Das war
lange vor der Relativitätstheorie bekannt. Was die Zeit anbelangt, so war die Situation in der klassischen Physik jedoch völlig anders. Die zeitliche Anordnung zweier Vorgänge wurde als
unabhängig von jedem Beobachter angenommen. Zeitliche
Angaben wie »vorher«, »nachher«, »gleichzeitig« hatten eine
absolute, vom Koordinatensystem unabhängige Bedeutung.
Einstein erkannte, daß zeitliche Angaben ebenfalls relativ
sind und vom Beobachter abhängen. Im täglichen Leben wird
der Eindruck, daß wir die Vorgänge um uns in einer eindeutigen Zeitfolge anordnen können, durch die Tatsache erweckt,
daß die Lichtgeschwindigkeit (300 000 km pro Sekunde) im
Vergleich zu allen anderen Geschwindigkeiten unserer
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