Das Tao der Physik
anwesend, noch ist es abwesend. Es ändert einen Ort nicht, noch bleibt es in Ruhe. Was
sich ändert, sind die Wahrscheinlichkeitsstruktur und somit die
Tendenzen des Teilchens, an gewissen Orten zu existieren:
Wenn wir zum Beispiel fragen, ob die Position des Elektrons die
gleiche bleibt, müssen wir »nein« sagen; wenn wirfragen, ob die Position des Elektrons sich mit der Zeit ändert, müssen wir »nein« sagen; wenn wir fragen, ob das Elektron in Ruhe verharrt, müssen wir
»nein« sagen; fragen wir, ob es in Bewegung ist, müssen wir »nein«
sagen (J. R. Oppenheimer). 7
Die Wirklichkeit des Atomphysikers überschreitet wie die
des östlichen Mystikers den engen Rahmen gegensätzlicher
Begriffe. Oppenheimers Worte erscheinen so als Echo der
Worte der Upanischaden:
Es bewegt sich. Es bewegt sich nicht.
Es ist weit, und es ist nahe.
Es ist in all diesem,
8 und es ist außerhalb von all diesem.
Materie und Energie, Teilchen und Wellen, Bewegung und
Ruhe, Existenz und Nicht-Existenz, das sind einige der gegensätzlichen oder widersprüchlichen Begriffe, die in der modernen Physik überschritten werden. Von all diesen Gegensatzpaaren scheint das letzte das fundamentalste zu sein, und dennoch müssen wir in der Atomphysik sogar noch über die Begriffe von Existenz und Nicht-Existenz hinausgehen. Dies ist an
der Quantentheorie am schwersten zu akzeptieren, und es ist
die Ursache für die anhaltende Diskussion über ihre Deutung.
Gleichzeitig ist das Überschreiten der Begriffe der Existenz
und Nicht-Existenz auch einer der rätselhaftesten Aspekte der
Östlichen Mystik. Wie die Atomphysiker befassen sich die östlichen Mystiker mit einer Wirklichkeit, die jenseits von Existenz
und Nicht-Existenz liegt, und diese bedeutende Tatsache betonen sie häufig. So sagt Ashvaghosha:
So-Sein ist weder das, was Existenz ist, noch das, was Nicht-Existenz ist, noch das, was zugleich Existenz und Nicht-Existenz ist.
noch das, was nicht zugleich Existenz und Nicht-Existenz ist. 9
Angesichts einer jenseits entgegengesetzter Begriffe liegenden
Wirklichkeit müssen Physiker und Mystiker sich eine besondere Art zu denken angewöhnen, wo der Verstand nicht im
starren Gerüst klassischer Logik fixiert ist, sondern seinen Gesichtspunkt ständig verlagert und verändert. In der Atomphysik sind wir es z. B. jetzt gewöhnt, sowohl den Teilchen- als
auch den Wellenbegriff bei unserer Beschreibung der Materie
anzuwenden. Wir haben gelernt, mit den beiden Bildern zu
spielen, von einem zum anderen und zurück zu schalten, um die
atomare Wirklichkeit zu begreifen. Dies ist genau die Art, in
der die östlichen Mystiker denken, wenn sie ihre Erfahrung einer Wirklichkeit jenseits der Gegensätze zu interpretieren versuchen. Mit den Worten Lama Govindas: »Die östliche Denkweise ist mehr ein Kreisen um den Gegenstand der Betrachtung . . . ein vielseitiger, d. h. vieldimensionaler Eindruck, der
aus der Überlagerung einzelner Eindrücke von verschiedenen
Gesichtspunkten entsteht.« 10
Um zu sehen, wie man zwischen dem Bild der Teilchen und
der Wellen in der Atomphysik hin- und herschalten kann, wollen wir die Begriffe »Wellen« und »Teilchen« genauer untersuchen. Eine Welle ist eine Schwingungsfigur in Raum und Zeit.
Wir können es in einem definitiven Augenblick der Zeit betrachten und sehen ein periodisches Muster im Raum, wie im
folgenden Beispiel. Diese Struktur wird charakterisiert durch
die Amplitude A, die Weite der Schwingung, und die Wellenlänge L, den Abstand zwischen zwei aufeinanderfolgenden
Wellen kämmen. Alternativ können wir die Bewegung eines
definitiven Punktes der Welle betrachten, wir sehen dann eine
durch eine bestimmte Frequenz charakterisierte Schwingung,
die Frequenz gibt an, wie oft der Punkt in der Sekunde hin und
her schwingt. Jetzt wenden wir uns dem Teilchen zu. Nach der
klassischen Vorstellung ist ein Teilchen zu jeder Zeit an einem
wohldefinierten Ort, und sein Bewegungszustand kann in Begriffen seiner Geschwindigkeit und seiner Bewegungsenergie
beschrieben werden. Teilchen mit großer Geschwindigkeit haben auch eine hohe Energie. In der Praxis benutzen Physiker
»Geschwindigkeit« zur Beschreibung des Bewegungszustandes
des Teilchens kaum, sondern eine
»Impuls«
genannte
Größe, die als Teilchenmasse mal Geschwindigkeit definiert
ist.
Ein Wellenmuster
Die Quantentheorie verbindet jetzt die Eigenschaften einer
Wahrscheinlichkeitswelle mit den Eigenschaften des entsprechenden Teilchens, indem sie die
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