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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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geschlossen hatte. Seinen Namen noch einmal nennen zu müssen war wie Verrat an gesetzten Tatsachen.
    »Jean-Louis also.« Der Meister Jaquet-Droz schaute ihn freundlich an. »Komm, ich will dir was zeigen.« Er öffnete eine Tür und bat ihn einzutreten.
    Zwei Tische standen unter den Fenstern an der Wand nebeneinander, darauf zwei einfache, unauffällige Uhrengehäuse, mehrere kleinere und größere Apparaturen und ein kleiner Amboss. Auf den Tischplatten waren noch Spuren der täglichen Arbeit zu sehen, aber der Raum war auffällig leer.
    »Siehst du, wir haben schon fast alles verpackt und auf die Wagen geladen. Den Rest habe ich verräumt. Man soll ja kein Chaos hinter sich zurücklassen, nicht wahr?«
    Hier stand Jean-Louis nun in der Werkstatt jenes Mannes, der, besser als jeder andere Uhrmacher der Welt, die Kunst der Mechanik beherrschte. Pierre Jaquet-Droz öffnete einen Schrank. Von unten bis oben war er mit Kisten, Gläsern und kleinen Metallbehältern angefüllt, in denen Feilen und Zangen, Schraubenzieher und Stichel, Messer und Hämmer in allen Größen schön geordnet waren. Der Meister nahm einige Werkzeuge heraus, legte vier verschiedene Feilen, eine flache, eine spitze und zwei runde, und mehrere kleine Schraubenzieher auf den Tisch. Dann folgten eine breite und eine spitze Zange, ein Okular, ein
Stiftenkloben, zwei Pinzetten, eine Metallschere, ein kleiner Hammer, ein Klappmesser, eine kleine Säge, ein Handbohrer, ein Stichel, ein Metallzirkel und ein kleiner metallener Massstab, alles schön in einer Reihe.
    »Schau, Jean-Louis, das hier sind ein paar Grundwerkzeuge. Damit kannst du jede erdenkliche Apparatur bauen, jede noch so komplizierte, noch so verrückte Mechanik. Wenn du wirklich willst, kannst du dir damit bauen, was du willst. Alles, was du außer den Werkzeugen hier brauchst, ist einzig und allein dein Kopf, dein Vorstellungsvermögen, dein Einfallsreichtum. Benutze deine Ideen, deine Phantasie, deine ganze Kraft der Imagination! Wenn du diese Kraft hast, dann steht dir mit diesen wenigen Werkzeugen die ganze Welt der Mechanik offen, und du kannst dich darin bewegen wie ein König in seinem Reich.«
    Pierre Jaquet-Droz rollte die Werkzeuge in ein Tuch ein, band eine Schnur darum herum und streckte ihm das Bündel entgegen.
    »Da.«
    Jean-Louis war so überrascht und verwirrt, dass er das Bündel nur anstarrte.
    »Da, nimm es, es ist für dich. Wir fahren übermorgen, ich brauche die Werkzeuge jetzt nicht, und wenn wir zurück sind, besorge ich mir neue.«
    Jean-Louis rührte sich nicht, und je länger er auf dieses Bündel mit den Werkzeugen starrte, umso klarer wurde ihm, dass es einerseits genau das enthielt, was er sich im Geheimsten zu seinem Geburtstag gewünscht hatte, andererseits jedoch die Gewissheit darüber darstellte, dass er nicht wie erträumt mit diesem Meister der Uhrenmechanik nach Spanien reisen würde. Stattdessen musste er seinen
Weg ins Jesuitenkollegium antreten und Latein und Griechisch lernen, Mathematik und Ordensregeln, Grammatik und religiöse Unterwerfung. Der Meister nahm Jean-Louis’ kleine Kinderhand und steckte ihm das Bündel zu. Jean-Louis’ Finger klammerten sich sofort daran fest, und seine Knöchel wurden ganz weiß. Nie, unter keinen Umständen, würde er diese Werkzeuge je wieder hergeben.
    »Und jetzt geh nach Hause, Jean-Louis«, sagte der Meister Jaquet-Droz, »wir haben hier noch viel zu tun. In achtundvierzig Stunden sollten wir bereits unterwegs sein.«

4
    Am Dienstag, dem 4. April 1758, boten eine bedeckte Karriole, drei beladene Holzkarren und zwei Reiter, die von la Chaux-de-Fonds her kommend durch Le Locle zogen, um über den Col des Roches nach Morteau, Lons-le-Saunier, Lyon, Richtung Spanien weiterzureisen, ein Spektakel, welches ganze Trauben Schaulustiger aus den Häusern lockte, die den Konvoi über eine weite Strecke hinweg durch den alten Schnee begleiteten. Jean-Louis hatte sich unter das Publikum gemischt und marschierte in den matschigen Fahrrillen der Wagen, trat in die Fußstapfen der Pferde, hörte das erstaunte Geplapper der Gaffer, die mahnenden Bedenken der Alten und die feurigen Zurufe der jüngeren Begleiter. Alles hätte er darum gegeben, jetzt da oben zu sitzen, auf diese zwischen Eifersucht und banger Sorge hinund hergerissene Menschenmenge hinunterzuschauen und fortzuziehen, hinaus in die Ferne, in die Zukunft, in die Welt der Konstrukteure und Erfinder. Diese Glückspilze, die den Meister der jurassischen

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