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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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Uhrmacherei nach Spanien begleiten durften, denen stand die Welt offen, ihnen war all dies gewiss, was Jean-Louis sich wünschte.
    Plötzlich erklangen Rufe von vorne. Der Meister Pierre Jaquet-Droz befahl, den Konvoi anzuhalten. Zwei Pferde wieherten, bäumten sich störrisch auf und zogen zur rechten, dann zur linken Seite weg, bevor sie zur Ruhe
kamen. Die Reiter setzten ab, die Lenker der hinteren beiden Wagen waren von ihren Böcken heruntergesprungen und klopften die Achsen und Deichseln ihrer Fahrzeuge ab, zogen an den Riemen, welche die Kisten festhielten, steckten die Wachsplanen wieder schön gefaltet unter die Schnüre. Jaquet-Droz brüllte etwas durch die aufgebrachte Menge. Jean-Louis glaubte, ihn fluchen gehört zu haben, konnte sich das jedoch aus dem Mund dieses vor zwei Tagen noch so einfühlsamen und freundlichen Mannes nicht vorstellen. Dann hörte er den Namen Sandoz mehrmals aus verschiedenen Richtungen. Und tatsächlich, Jean-Louis war gar nicht aufgefallen, dass Abraham Louis Sandoz, der Organisator der Reise und Konstrukteur eines der vier Wagen, gar nicht mit dabei war. Nun bewegten sich die Menschentrauben in einem leichten Bogen um die Gespanne herum, denn der Meister Jaquet-Droz war unter einem Wagen verschwunden. Wie ein Schwarm Fliegen umstanden die Gaffer den Karren, unter welchen Jaquet-Droz gekrochen war. Das Problem schien nicht die Absenz Abraham Louis Sandoz’ zu sein, sondern sein über die vergangenen Wochen hinweg konstruiertes Gefährt, dessen Achsen den Schlägen der Steine und Löcher über längere Zeit wohl nicht standhalten würden.
    Nun begann ein wildes Spekulieren, Beraten und Prophezeien. Die Menschentraube folgte dem Meister um den von Abraham Louis Sandoz gebauten Wagen herum und zurück. Das Pferd wurde ausgespannt und die ganze Konstruktion mit einem schweren Hammer abgeklopft. Sandoz’ Konstruktionskünste wurden angezweifelt und mit Befürchtungen und wilden Szenarien überschüttet. Mehrere Gespanne wurden von den Le Loclern herangefahren
und von allen verglichen, begutachtet und ebenfalls mit Hämmern abgeklopft, bis der penible Pierre Jaquet-Droz sich überzeugen ließ von der Stärke und Robustheit eines mehrfach gebrauchten, wendigen Transportwagens. Auf der Stelle erstand er diesen für fünf Ecus neuneinhalb und ließ ihn beladen. Kurzerhand wurde auch die Ladung des vierten Karrens auf den neu erstandenen umgeladen, so dass die weiterziehende Karawane zwei Gefährte am Wegrand stehen ließ wie ein altes Paar Schuhe. Einzig der Tourenzähler, den Abraham Louis Sandoz an seinem selbst gebauten Wagen angebracht hatte, wurde ab- und an das Rad des neu erstandenen Gespanns montiert. Jean-Louis setzte sich auf die Bank dieser zum Wrack degradierten Konstruktion von Sandoz und schaute dem Umzug nach, wie dieser, noch immer begleitet von einer treuen Gruppe Fußvolk, den Weg fortsetzte in jene Richtung, die Jean-Louis’ Schicksal diametral entgegenstand. Aber hier, auf dem ausrangierten Fuhrwerk, konnte er sich die Reise vorstellen, hier war er derjenige, der die Pferde lenkte, der die sensible Fracht beschützte, hier war er der Meister, auf dem Weg, den spanischen König in Erstaunen und äußerste Verzückung zu versetzen.
    Jean-Louis hatte keine Ahnung, wie lange er auf dem Wagen geträumt hatte, als er die Hufe eines trabenden Pferdes herannahen hörte. Der Reiter trug einen langen, schwarzen, im Wind wehenden Mantel, einen tief sitzenden Hut und schwarze Handschuhe. Erst als der Reiter ganz nah herangekommen war, erkannte Jean-Louis Abraham Louis Sandoz’ Gesicht unter dem dicken Hut.
    »Was machst du denn da auf meinem Wagen?«, schrie er aufgebracht und zügelte das schnaubende Pferd.

    »Wo ist das Gepäck, wo sind die Reisenden?« Abraham Louis Sandoz war mehr als verwirrt.
    »Diese beiden Wagen wurden gegen einen anderen, robusteren ausgetauscht.«
    »Ausgetauscht? Mein Wagen?« Sandoz sprang von seinem Pferd und kroch unter die vordere Achse. »Und der Zähler?«
    »Der wurde ummontiert.«
    »Wann war das?«
    »Weiß nicht, schon eine ganze Weile her, wahrscheinlich sind sie bereits in Les Brenets.«
    Abraham Louis Sandoz stieß ein paar schlimme Flüche aus, zog den Hut tiefer in die Stirn und schwang sich auf sein Pferd.
    »Sorg dafür, dass dein Vater sich um meinen Wagen kümmert, bis wir wieder zurück sind«, schrie er noch, dann galoppierte er mit wehendem Mantel davon durch diese Landschaft aus altem Schnee, müden Tannen und tiefen

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