Das taube Herz
betend für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Aber Jean-Louis hatte bereits vier Mäuse gefangen, die sich nun unter seinem Bett in einem kleinen Kasten aus Brettern, Drahtgeflecht und Stofffetzen an dem von seinem Abendessen abgezweigten Käse vergnügten. Er verwöhnte seine Beute so, dass die Mäuse sich in dem kleinen Käfig schnell
vermehrten. Die Mäuseschar wurde immer unruhiger und lief Gefahr, sich bemerkbar zu machen. Jean-Louis sah sich gezwungen, einige seiner Zöglinge wieder freizulassen. Er behielt nur die größten und stärksten, aber ihr Zeugungswille war ungebrochen. Er versuchte, sie zu trennen, aber auch das zu spät, und er musste noch einmal eine kleine Schar winziger Mäuse unter die Betten, in die Schränke und in die Wäsche entwischen lassen.
Die Wochen und Monate der zweiten Hälfte des ersten Schuljahres verbrachte Jean-Louis damit, den zurückgehaltenen, ausgewachsenen Mäusen ein kleines Reich zu bauen. Eine beinah vollständig intakte Fensterscheibe, die er während einer Strafarbeit infolge von Unkonzentriertheit im Lateinunterricht auf dem Dachboden des Kollegiums entdeckt hatte, brachte ihn auf die Idee. Seine Mäuse erhielten ein kleines Paradies mit mehreren Etagen, mit Treppen und Rädern, mit plätscherndem Wasser und sich bewegenden Tribünen. Und während sich seine kleinen Gäste in ihrem Heim tummelten, konnten die Bewohner des Kollegiums sie durch die große Frontscheibe bei ihren Vergnügungen beobachten, so als betrachteten sie die Miniatur ihres eigenen Schicksals. Diese Verdoppelung brachte einige Schüler in Aufruhr, andere in Verzückung, wieder andere wendeten sich gelangweilt ab, so wie sie sich von allem gelangweilt abwendeten. Aber als Jean-Louis das Wasserspiel einrichtete, da kamen sie alle und staunten. Die größte der sechs Mäuse, gehalftert wie ein Miniaturpferd, befand sich auf einem Rad, welches sie mit den vor Panik wild strampelnden Beinen vorantrieb und welches die Bewegung über eine Deichsel an ein Schaufelrad außerhalb des Käfigs übertrug. Nach und nach sollte so
das Wasser aus dem Reservoir, das sich an der Rückseite des Geheges befand, auf einen kleinen Turm gehievt werden, um von dort durch ein Labyrinth aus zusammengesteckten Schwanenfedernröhrchen zurückzufließen und das eine und andere Trinkgefäß zu füllen. Das überschüssige Wasser sollte ins Reservoir an der Rückseite des Geheges fließen. Bloß waren die Beine der größten Maus nicht stark genug, um das Wasser hochzuhieven. Sie konnte strampeln und zerren und zappeln, wie sie wollte, das Schaufelrad machte nur müde Schaukelbewegungen, ohne die unterste Schaufel aus dem Wasser herauszustemmen. Alle staunten, alle spornten den sportlichen Mäuserich mit lauten Rufen an, aber das Ergebnis war eine Enttäuschung. Das Wasser, das von Hand geschöpft erstaunlich floss und sprudelte, wollte sich durch die alleinige Kraft der Maus nicht in Bewegung setzen.
»Spinner!«, schimpften die einen, als sie bemerkten, dass Jean-Louis’ Konstruktion keinen Deut wert war. »Tierquäler!«, skandierten die anderen durch die Wandelhallen des Kollegiums, bis sie von Bruder Pius zur Ruhe ermahnt wurden. Andere ignorierten Jean-Louis fortan oder tuschelten, wenn er in ihre Nähe kam.
Zwei Tage später schreckte Jean-Louis mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Füße und Hände hatte man ihm mit zerrissenen Lakenteilen an das Bettgestell gefesselt. In seinem Mund steckte ein dickes Taschentuch. Nur die Augen hatten die drei mit Kapuzen maskierten Mitschüler frei gelassen, die sich jetzt daran machten, die Mäuse an den Schwänzen aus ihrem Käfig herauszufischen und sie eine nach der anderen zwischen die Betten den langen Gang hinunterzuwerfen. Kaum waren die Tiere entwischt,
begannen die drei Maskierten das Gehäuse in seine Teile zu zerschlagen und die Räder, die Federröhrchen, die Drähte, die Schalen und Laufstege herauszureißen. Zum Schluss warf einer die Glasplatte auf den Boden, so dass sie zerplatzte. Bruder Pius schreckte aus seiner Nachtruhe, marschierte, Flüche und Verwünschungen in sich hineinfressend und Stoßgebete rezitierend, durch den verwüsteten Schlafsaal und schlug mit einem Stock auf die sich scheinheilig schlafend stellenden, von weißen Laken verborgenen Körper ein, damit sie sich erhoben und der geschaffenen Unordnung Rechenschaft zollten.
6
Zutiefst erschüttert über so viel Spott und Neid, verkroch Jean-Louis sich tagelang im Garten, im Keller, sogar in die Kapelle
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