Das Testament des Satans
ein Gewirr aus schmalen Wegen, in denen Vittorino raschelnd verschwindet. Abgerissene Blätter und Zweige rieseln zu Boden, der mit den Splittern der zerstoßenen Schalen von Jakobsmuscheln bedeckt ist. Seit die Michelots, die Pilger, nicht mehr zum Mont kommen, haben die Mönche keine Verwendung mehr für die Coquilles Saint-Jacques als Pilgerabzeichen. Doch es ist nicht der Gedanke an zerstoßene Muschelschalen, der Vittorino in den Sinn kommt, während er keuchend durch das Labyrinth hetzt, sondern die Vorstellung von knirschend zermahlenen Menschenknochen … von seinen ausgebleichten Gebeinen, die nach seinem Tod hier verstreut werden …
Fluchend bleibt der Mönch im Schatten der Arkaden stehen. Wenn er Vittorino ins Labyrinth folgt, begibt er sich in Gefahr. Wie leicht könnte der Jude ihm den Dolch entwinden, ihn niederstechen und entkommen. Doch er darf den Mont-Saint-Michel nicht verlassen! Er darf dem Papst nicht berichten, was er entdeckt hat!
Mit angehaltenem Atem kauert Vittorino auf den scharfkantigen Muscheln und lauscht auf ein leises Knirschen, das Knistern des Splitts, das von einer Ledersandale zur Seite getreten wird, das Rascheln der schweren Kukulle an den kleinen Zweigen.
Zwei Schritte, stehen bleiben.
Das Knirschen auf der anderen Seite der Hecke verstummt.
Einen Schritt.
Dasselbe Geräusch, wie ein Echo. Aber näher jetzt.
Zu nahe.
Während ihm der Mönch ins Labyrinth folgt, weicht Vittorino so leise wie möglich drei, vier, fünf Schritte zurück in Richtung der Kirche und blinzelt nach links und rechts in die Dunkelheit – von wo wird sich der Maskierte auf ihn stürzen? Er hat das Labyrinth während seiner täglichen Meditationen unzählige Male durchschritten – Vittorino kennt es nicht. In seinem Kopf spürt er ein dumpfes Pochen. Sein rasselnder Atem geht stoßweise.
Dort drüben! Eine Bewegung. Die Hecke rechts von ihm schwankt unmerklich. Zweige knistern. Blätter rieseln auf den Boden und werden knirschend im Muschelsplitt zertreten.
Vittorino hält den Kopf gesenkt und lauscht in die plötzliche Stille.
Der Mönch ist stehen geblieben.
Wie erstarrt kauert Vittorino zwischen den Hecken und versucht, seinen keuchenden Atem unter Kontrolle zu bringen. Sein Herzschlag dröhnt wie eine Glocke, und das Blut rauscht in seinen Ohren.
Sonst ist im dichten Nebel nichts zu hören. Absolut nichts.
Abgesehen von dem leisen Schnarchen, das aus dem Schlafsaal der Mönche bis zu ihm dringt.
Und den Schritten auf der Treppe, die vom Scriptorium unterhalb des Kreuzgangs zum Kirchenportal heraufführt. Einer der Mönche war offenbar mitten in der Nacht noch in der Bibliothek. Ob er das Teufelsbuch entdeckt hat, das Vittorino nicht in sein Versteck zurückgebracht hat, bevor er in die Krypta eingedrungen ist, um das Testament des Satans zu finden?
Schon will Vittorino den Frater um Hilfe anflehen, als die Schritte plötzlich innehalten. Und schließlich umkehren. All’ inferno! Er steigt wieder hinab ins Scriptorium.
Ein Rascheln hinter der Hecke!
Vittorino will aufspringen, da bricht eine Hand durch die Hecke, und ein Dolch verfehlt seine Halsschlagader nur um Haaresbreite. Keuchend duckt er sich unter der Klinge hindurch und hastet den gewundenen Heckengang entlang in Richtung des Dormitoriums. Dort bleibt er stehen und lauscht.
Todesstille.
Vittorino wagt einen Blick über den Rand der Hecke, um das Labyrinth im Kreuzgang zu überblicken.
Geisterhafte Nebelschwaden wabern zwischen den Spitzbögen und den beschnittenen Hecken.
Keine Spur von dem Benediktiner.
Wohin ist er verschwunden?
In diesem Augenblick fällt das Kirchenportal mit einem dumpfen Krachen ins Schloss. Leise Schritte, die im gewaltigen Hauptschiff widerhallen, entfernen sich.
Erleichtert aufseufzend sinkt Vittorino zu Boden und lehnt sich erschöpft gegen die spitzen Zweige, die sich in seinen Rücken bohren. Minutenlang widersteht er dem Drang, aus der Todesfalle des Heckenlabyrinths zu entkommen.
Nur einen Augenblick noch – bis der Mönch die Kirche verlassen hat. Denn Vittorino muss sie durchqueren, um die steile Abteitreppe zu erreichen, die von der Kirche zum Châtelet hinabführt, dem befestigten Tor der Abtei am Abgrund des Felsens.
Zu Tode erschrocken zuckt er zusammen, als plötzlich ein Krachen über ihn hereinbricht. Eine Möwe, die in einer bemoosten Regenrinne der Kirche nistet, flattert aufgescheucht hoch. Aus den Augenwinkeln nimmt Vittorino eine Bewegung wahr. Über die Schulter
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