Das Testament des Satans
blickt er hoch zum steilen, mit gelbem Moos bewachsenen Schieferdach des Kreuzgangs, wo sich die Möwe schreiend in die Tiefe stürzt, um auf die andere Seite zu fliegen.
Dort oben lauert der Benediktiner vor einer offenen Holztür neben dem Kirchenfenster. Über ihm ragt der gewaltige Glockenturm auf. Mit den Füßen sucht er einen sicheren Stand auf dem schmalen, glitschigen Sims und starrt auf das Heckenlabyrinth hinab, das offen vor ihm liegt. Mit der gespannten Armbrust nimmt er kaltblütig Vittorino ins Visier, zielt und schießt.
Der Bolzen zischt durch den Nebel und verfehlt Vittorino nur knapp. Der Archivar des Papstes wirbelt herum und stolpert krachend und knisternd durch die schmalen Gänge des Heckenlabyrinths auf das rettende Kirchenportal zu, während der alte Priester mit ruhigen, besonnenen Bewegungen die Armbrust nachlädt und spannt, als vollziehe er eine heilige Handlung.
Dann legt er erneut an und zielt.
Vittorino stolpert über eine Wurzel und stürzt der Länge nach in den Muschelsplitt. Die Zweige kratzen sein Gesicht blutig, stechen ihm beinahe ein Auge aus. Doch der Bolzen zischt mehrere Handbreit über ihn hinweg. Vittorinos Hände packen die Zweige. Ächzend zieht er sich wieder hoch und humpelt mit schmerzverzerrten Lippen weiter auf den Mönch zu, der wieder nachlädt und spannt.
Vittorino erreicht den Ausgang des Labyrinths, hastet über den schmalen Streifen aus Muschelsplitt und verschwindet im Säulengang. Hier kann ihn der Mönch auf dem Dach nicht sehen, doch in Sicherheit ist er noch nicht. Nicht stehen bleiben!
Wenige Schritte entfernt erreicht er den Durchgang zu dem Hof mit dem Seitenportal der Kirche. Links windet sich eine Treppe hinauf zum Dach des Kreuzgangs, wo der Assassino lauert. Rechts verschwindet eine andere Treppe im Boden – sie führt hinunter zum Scriptorium.
Der Schuss trifft Vittorino in den Rücken, während er über den Hof läuft. Vor dem Kirchenportal bricht er zusammen und ringt nach Atem. Noch spürt er keinen Schmerz, noch fühlt er nicht, wie das Blut über seinen Rücken rinnt und sein Gewand durchnässt. Als er sich aufrichtet, um taumelnd wieder auf die Beine zu kommen, schlägt ihm der nächste Bolzen wie ein harter Faustschlag ins Rückgrat, zerschmettert zwei Wirbel und durchtrennt die Nerven.
Gott Israels, Gott meiner Väter, steh mir bei!, fleht Vittorino, dem der kalte Schweiß über das Gesicht rinnt. Ich muss das Kirchenportal erreichen! Wenn ich es bis in die Kirche schaffe, bin ich gerettet! Wenn ich vor dem Altar liege, wird er mich nicht töten!
Mit letzter Kraft kriecht Vittorino Handbreit um Handbreit vorwärts, keuchend vor Anstrengung, schluchzend vor Schmerz und Todesangst.
Keine Absolution! Keine Hoffnung auf Vergebung!
In die Hölle verdammt!
Auf den Ellbogen zieht er sich mühsam vorwärts.
Nur noch drei Schritte bis zu den Stufen.
Seine Beine kann er nicht mehr spüren. Aber er gibt nicht auf, quält sich mit verzerrtem Gesicht weiter vorwärts.
Zwei Schritte.
Während er sich mit letzter Kraft voranschiebt, überlegt er, wie er das schwere Portal aufstoßen soll. Er bäumt sich verzweifelt auf, sinkt wieder zu Boden.
Nur einen Schritt.
Ein erneuter Versuch, so vergeblich wie der letzte.
Die Stufen sind direkt vor ihm, er muss nur die Hand ausstrecken, um den feuchten Stein zu berühren. In diesem Augenblick bohrt sich ein Bolzen tief in seine rechte Schulter und zerfetzt seine Lunge.
Mit einem Stöhnen bricht Vittorino zusammen.
Tief unter der Kirche schließt der Hüter der Lade das Portal der Krypta hinter sich und verriegelt es. Fröstelnd rafft er seine klamme Kukulle und blinzelt in die dichten Weihrauchschwaden. Langsam gewöhnen sich seine Augen an die geheimnisvolle Dunkelheit, die nur von der Kerze durchbrochen wird, die Vittorino vorhin zurückgelassen hat.
Ein Gebet murmelnd stapft der Hüter die Geröllhalde hinauf, die die zweischiffige Kapelle bis fast zum Deckengewölbe anfüllt, und arbeitet sich vor bis zur vom Schutt befreiten Altarnische. Vor Jahrhunderten war diese Kapelle aus Sicherheitsgründen zugeschüttet worden, als die gewaltige Abteikirche über diesen Fundamenten errichtet wurde – zu Recht, wie der Einsturz des Chors und der Krypta vor einigen Jahren bewiesen hat.
Vor dem wuchtigen Steinaltar wurde er, der Bibliothekar der Abtei, von der Bruderschaft zum Hüter ernannt, nachdem sein Vorgänger ermordet worden war. Beinahe hätte er durch Vittorino dasselbe Schicksal
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