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Das Testament eines Excentrischen

Das Testament eines Excentrischen

Titel: Das Testament eines Excentrischen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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europäischer oder nach amerikanischer Sitte zu leben, übertrifft alle das Auditorium, eine mächtige Karawanserai, deren zehn Stockwerke sich an der Ecke der Congreß Street und der Michigan Avenue gegenüber dem Lake-Park aufeinanderthürmen.
    Das ungeheuere Bauwerk kann aber nicht allein Tausenden von Reisenden Unterkommen bieten, es enthält auch ein Theater für nicht weniger als achttausend Zuschauer.
    Während dieser »Matinée« – ein Ausdruck, der von jenseits des Atlantischen Oceans her hier übernommen wurde – sollte das Haus fast noch mehr als das Maximum an Gästen haben und dasselbe dürfte bezüglich der Einnahme gelten. Ja, der baaren Einnahme, denn nach dem glücklichen Einfall, die Namen der »Sechs« nur dem Höchstbietenden mitzutheilen, hatte der Notar Tornbrock auch noch den gehabt, alle, die der Verlesung des Testaments im Theater des Auditoriums beiwohnen wollten, ihren Platz bezahlen zu lassen. Das ergab weitere zehntausend Dollars zu Gunsten der Armen, denn die Einnahme sollte zu gleichen Theilen den Hospitälern der Alexian Brothers und des Maurice Porter Memorial for Children zugewendet werden.
    Die Neugierigen aus der ganzen Stadt beeilten sich denn auch heranzuströmen, ja die Leute kämpften noch um die geringsten Plätze. Auf der Bühne sah man den Bürgermeister und die Stadträthe, etwas dahinter die um ihren Vorsitzenden Georges B. Higginbotham gescharten Mitglieder des Excentric Club, ein wenig mehr im Vordergrunde und schon nahe der Rampe in einer Reihe die »Sechs« – jeden davon in der Erscheinung, die seiner gesellschaftlichen Stellung entsprach.
    Lissy Wag, sehr eingeschüchtert, sich in dieser Weise vor Tausenden begieriger Augen ausgestellt zu sehen, bewahrte auf ihrem Armstuhl mit gesenktem Kopfe die gewohnte bescheidene Haltung.
    Harris T. Kymbale machte es sich freudestrahlend auf dem seinigen bequem und begrüßte eine Menge Collegen von Zeitungen jeder Richtung, die sich mehr in die Mitte des Parquets gedrängt hatten.
    Der mit wild rollenden Augen dasitzende Commodore Urrican schien Streit mit jedem Beliebigen zu suchen, der es wagen würde, ihm ins Gesicht zu starren.
    Max Real betrachtete sorglos die bis in die höchsten Ränge vertheilte dichte Menge, an der eine Neugier nagte, die er kaum theilte, er blickte vielmehr fast ausschließlich auf die reizende junge Dame, seine Nachbarin, hin, deren gedrückte Haltung ihm lebhaftes Interesse einflößte.
    Hermann Titbury berechnete für sich, wie hoch die heutige Einnahme hier sein werde – ein Wassertropfen gegenüber den Millionen der Erbschaft.
    Tom Crabbe wußte eigentlich nicht, warum er hier sei. Er saß auf keinem Armstuhl – der seine ungeheure Masse gar nicht hätte aufnehmen können – sondern auf einem breiten Sopha, dessen Beine unter seiner Last ächzten.
    Selbstverständlich befanden sich in der ersten Reihe der Zuhörer der Traineur John Milner, Frau Kate Titbury, die ihrem Gatten immerfort unverständliche Zeichen machte, und die nervöse Jovita Foley, ohne deren Drängen und Zureden Lissy Wag nie zugestimmt hätte, sich vor dieser entsetzlichen Menschenmenge hinzusetzen. In dem ganzen weiten Raume, im Amphitheater, auf den entferntesten Sitzreihen, an jeder Stelle, in der sich ein Menschenkörper nur einklemmen, in jeder Oeffnung, durch die ein Menschenkopf nur schlüpfen konnte – überall wimmelte es von Männern, Frauen und Kindern aus den reichen bis zu den einigermaßen bemittelten Kreisen der Einwohnerschaft.
    Und draußen, längs der Michigan Avenue und der Congreß Street, an den Fenstern der Häuser, auf den Balkonen der Hôtels, auf den Fußsteigen und auf den Fahrbahnen, wo der Wagen-und Straßenbahnverkehr völlig unterbrochen war, harrte eine wie der Mississippi zur Zeit der Hochfluth überschäumende Menschenmasse, deren letzter Wogenschlag über die Grenzen des Quartiers hinausreichte.
    Der Schätzung nach waren an diesem Tage fünfzigtausend Fremde, und zwar aus verschiedenen Theilen von Illinois und aus den angrenzenden Staaten, doch auch aus New-York, Pennsylvanien, Ohio und Maine, nach Chicago gekommen. Eine geräuschvolle, immer anwachsende Gährung herrschte in dem erwähnten Theile der Stadt und dröhnte im ganzen Lake-Park wider, bis sie sich auf der Fläche des sonnenbestrahlten Michigansees verlor.
    Jetzt schlug die Mittagsstunde. Ein allgemeines »Ah!« erfüllte die Luft auch außerhalb des Auditoriums.
    Im gleichen Augenblick hatte Meister Tornbrock sich erhoben,

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