Das Testament eines Excentrischen
nicht.
Begiebt man sich nach dem Nordwesten der Stadt, so kommt man nach Ueberschreitung des Boulevard Humboldt in deren siebenundzwanzigstes Quartier. Hier ist der Verkehr weniger lebhaft, die Bevölkerung weniger geschäftig. Wer dahin kommt, könnte sich in die Provinz versetzt glauben, obgleich es in den Vereinigten Staaten eine solche im landesüblichen Sinne gar nicht giebt. Jenseits der Wabansia Avenue trifft man auf den unteren Theil der Sheridan Street. Geht man hier bis zur Nr. 19, so sieht man sich vor einem einfachen, siebzehnstöckigen und von vielen Miethsparteien bewohnten Hause. In dessen neuntem Stockwerke hatte Lissy Wag eine kleine Wohnung von zwei Zimmern, nach der sie erst heimkehrte, wenn sie als Untercassierin im Modemagazin von Marshall Field ihr Tagewerk vollendet hatte.
Lissy Wag stammte aus einer achtbaren, doch wenig bemittelten Familie, von der sie allein noch übrig war. Gut erzogen und wohl unterrichtet, wie die meisten jungen Amerikanerinnen, hatte sie sich nach traurigen Schicksalsschlägen, nach dem vorzeitigen Ableben ihres Vaters und ihrer Mutter, die Mittel zu ihrer Existenz müssen durch Arbeit zu gewinnen suchen. Ihr Vater war durch eine unglückliche See-Versicherungsangelegenheit um seine ganze Habe gekommen, und eine im Interesse der Tochter durchgeführte Liquidation hatte dieser auch nichts übrig gelassen.
Begabt mit entschlossenem Charakter, sicherem Urtheil, klarer Intelligenz und ruhiger Selbstbeherrschung, hatte Lissy Wag moralische Kraft genug, den Muth nicht zu verlieren. Dank der Fürsprache einiger Freunde ihrer Familie, war sie dem Inhaber der Firma Marshall Field empfohlen worden und nahm bei diesem seit fünfzehn Monaten eine recht angenehme Stellung ein.
Es war ein sehr hübsches junges Mädchen von einundzwanzig Jahren und von Mittelgröße, mit blondem Haar, tiefblauen Augen und hübscher, von Gesundheit zeugender Hautfarbe. Dabei hatte sie einen eleganten Gang und etwas ernste Gesichtszüge, nur zuweilen belebt von sanftem Lächeln, das dann zwei Reihen schöner Zähne zwischen den Lippen aufleuchten ließ. Immer liebenswürdig, gefällig, zuvorkommend und wohlwollend, hatte sie unter ihren Bekannten nur Freunde.
Von einfachem Geschmack, sehr bescheiden, ohne Ehrgeiz und ohne sich je Träumereien hinzugeben, zu denen sich viele ja so leicht verirren, wurde Lissy Wag sicherlich am allerwenigsten von den »Sechs« erregt, als sie erfuhr, daß der Zufall sie rief, an dem Leichenbegängnisse theilzunehmen. Anfänglich wollte sie es ablehnen, eine solche Art öffentlichen Auftretens widerstrebte ihr. Ihren Namen und ihre Person der öffentlichen Neugierde preisgegeben zu sehen, das erfüllte sie mit tiefem Widerwillen. Sie mußte ihren, doch gewiß ganz ehrenhaften Gefühlen Gewalt anthun, und nur mit schwerem Herzen und düsterer Stirn nahm sie ihren Platz neben dem Wagen ein.
Wir müssen hier hervorheben, daß eine ihrer vertrautesten Freundinnen alles aufgeboten hatte, den Widerstand des jungen Mädchens zu besiegen. Das war die lebhafte, heitere, lachlustige, zweiundzwanzigjährige Jovita Foley, die, wie sie recht gut wußte, weder schön noch häßlich war, durch ihre geistvollen, wenn auch etwas spottlustigen und seinen Gesichtszüge und ihre liebenswürdige Natur aber überall den besten Eindruck machte und die mit Lissy Wag in engster Freundschaft verbunden war.
Die beiden jungen Mädchen wohnten auch beisammen, und nachdem sie im Geschäft von Marshall Field, wo Jovita Foley erste Verkäuferin war, den Tag verbracht hatten, gingen sie miteinander heim. Nur selten sah man die eine ohne die andere.
Wenn Lissy Wag unter diesen Umständen dem eifrigen Zureden ihrer Freundin nachgab, so stimmte sie doch nicht zu, die Berichterstatter des »Chicago Herald« zu empfangen, die sich noch am Abend in Nr. 19 der Sheridan Street einfanden.
Vergebens redete ihr Jovita Foley zu, nicht so zugeknöpft zu sein – sie wollte von einem Interview einmal nichts wissen. Nach den Reportern kämen dann die Photographen, um ihr indiscretes Objectiv auf sie zu richten… nach den Photographen noch Neugierige aller Art… Nein, es sei besser, die Wohnung gegen alle unwillkommenen Besucher verschlossen zu halten. Was Jovita Foley auch einwenden mochte – jedenfalls war das das Klügste, und dem »Chicago Herald« entging die Gelegenheit, seinen Lesern mit einem sensationellen Artikel aufzuwarten.
»Nun, meinte Jovita Foley, als die Journalisten mit herabhängendem Ohr
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