Das Testament
ineinandergeschlungenen Zweige der mächtigen hohen Bäume bildeten ein dunkles Dach. Mit einem Mal war die Luft kühl.
»Machen wir eine Pause«, sagte sie. Der Wasserlaufwand sich durch die Wälder, und der Pfad führte an einer Stelle über ihn hinweg, an der bläuliche und orangefarbene Steine lagen. Sie kniete sich nieder und besprengte ihr Gesicht mit Wasser.
»Das können Sie trinken«, sagte sie. »Es kommt aus den Bergen.«
Nate hockte sich neben sie und hielt die Hände ins Wasser. Es war kalt und klar.
»Das ist meine Lieblingsstelle«, sagte sie. »Ich komme fast täglich hierher, um zu baden, zu beten und zu meditieren.«
»Es fällt mir schwer zu glauben, dass wir im Pantanal sind. Es ist viel zu kühl.«
»Wir befinden uns an seinem Rand. Die bolivianischen Berge sind nicht weit. Das Pantanal beginnt irgendwo hier in der Nähe und dehnt sich endlos weit nach Osten aus.«
»Ich weiß. Wir sind auf der Suche nach Ihnen drüber weggeflogen.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Der Flug war nur kurz, aber ich konnte das Pantanal gut sehen.«
»Aber Sie haben mich nicht gefunden.«
»Nein. Wir sind in ein Unwetter gekommen und mussten notlanden. Ich hatte Glück und bin mit dem Leben davongekommen. Ich setz mich nie wieder in so ein kleines Flugzeug.«
»Es gibt hier in der Nähe ohnehin keine Landemöglichkeit.«
Sie zogen Schuhe und Socken aus und ließen die Füße ins Wasser hängen. Sie saßen auf den Steinen und lauschten dem murmelnden Bach. Sie waren allein, weder Lako noch Jevy waren zu sehen.
»Als kleines Mädchen habe ich in Montana in einer Kleinstadt gelebt, in der mein Vater, mein Adoptivvater, Priester war. Nicht weit vom Rand der Stadt floss ein Bach wie der hier. Dort gab es eine Stelle unter einigen hohen Bäumen, so ungefähr wie diese hier, wo ich stundenlang meine Füße ins Wasser gehängt habe.«
»Haben Sie sich da versteckt?«
»Manchmal.«
»Verstecken Sie sich jetzt?«
»Nein.«
»Ich glaube schon.«
»Nein, Nate, da irren Sie sich. Ich lebe in völligem Einklang mit mir. Ich habe mich vor vielen Jahren Christus anvertraut und folge ihm, wohin er mich führt.
Sie halten mich für einsam - das stimmt aber nicht. Er ist auf jedem Schritt meines Wegs bei mir. Er kennt meine innersten Gedanken, meine Bedürfnisse und befreit mich von meinen Ängsten und Sorgen. Ich lebe in dieser Welt in gänzlichem Frieden.«
»So was habe ich noch nie zuvor gehört.«
»Sie haben gestern Abend gesagt, dass Sie ein schwacher Mensch sind. Was meinen Sie damit?«
Beichten tut der Seele gut, hatte ihm Sergio während der Therapie gesagt. Wenn sie es nicht anders haben wollte, würde er sie eben mit der Wahrheit zu schockieren versuchen.
»Ich bin Alkoholiker«, sagte er, wie man es ihn während der Entwöhnung gelehrt hatte. Es klang fast stolz. »Ich war in den letzten zehn Jahren viermal ganz unten und hatte gerade wieder eine Entziehungskur hinter mir, als ich diese Reise angetreten habe. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob mit dem Trinken für alle Zeiten Schluss ist. Ich habe dreimal mit dem Kokain aufgehört und nehme an, dass ich das Zeug nie wieder anfasse. Allerdings kann man da nie ganz sicher sein. Ich hab vor vier Monaten während des Entzugs vor Gericht meine Zahlungsunfähigkeit erklärt. Zur Zeit läuft gegen mich ein Verfahren wegen Steuerhinterziehung, und die Chancen, dass ich ins Gefängnis muss und mir die Zulassung als Anwalt entzogen wird, stehen fünfzig zu fünfzig. Von den beiden Scheidungen wissen Sie schon. Beide Frauen können mich nicht außtehen, und sie haben die Seelen meiner Kinder vergiftet. Ich habe mein Leben gründlich versaut.«
Bei dieser Selbstentblößung empfand er weder Erleichterung, noch schien er sich daran zu weiden.
Sie hörte sich all das an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Sonst noch etwas?«
fragte sie.
»Oh ja. Ich habe mindestens zweimal versucht, mir das Leben zu nehmen -
jedenfalls kann ich mich an zwei Gelegenheiten erinnern. Einmal im vorigen August. Daraufhin hat man mich in die Entzugsklinik geschickt. Dann vor ein paar Tagen in Corumba. Ich glaube, es war am Weihnachtstag.«
»In Corumba?«
»Ja. In meinem Hotelzimmer. Ich hab mich mit billigem Wodka fast zu Tode gesoffen.«
»Sie armer Mann.«
»Schön, ich bin krank. Ich habe das schon oft in Gegenwart von vielen Leuten gesagt, die mir helfen wollten.«
»Haben Sie es je Gott gebeichtet?«
»Ich bin sicher, dass Er das weiß.«
»Natürlich weiß Er es. Aber
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