Das Testament
Bier. Beide rauchten. Vater und Sohn schüttelten sich die Hand. Augenscheinlich wäre Daniel jede liebevollere Geste Nates peinlich gewesen.
»Das ist Stef«, sagte Daniel und wies auf seine Begleiterin. »Sie ist Mannequin«, fügte er rasch hinzu, wohl um dem Vater zu beweisen, dass er mit Klassefrauen Umgang hatte.
Aus irgendeinem Grund hatte Nate gehofft, einige Stunden allein mit seinem Sohn verbringen zu können. Das sollte offenbar nicht sein.
An Stef fiel ihm als erstes der Schmollmund und der dick aufgetragene graue Lippenstift auf. Zur Begrüßung gönnte sie ihm kaum die Andeutung eines Lächelns.
Auf jeden Fall war sie hübsch und dürr genug, um tatsächlich Mannequin zu sein.
Ihre Arme sahen aus wie Besenstiele. Zwar konnte Nate ihre Beine nicht sehen, doch vermutete er, dass sie dünn waren und ihr bis zu den Achselhöhlen reichten.
Zweifellos hatte sie um die Fußknöchel herum mindestens zwei Tätowierungen.
Nate konnte sie vom ersten Augenblick an nicht leiden, und es kam ihm ganz so vor, als beruhe das auf Gegenseitigkeit. Und wer weiß, was Daniel ihr über seinen Vater berichtet hatte.
Daniel hatte vor einem Jahr das College in Grinnell beendet und den darauffolgenden Sommer in Indien verbracht. Nate hatte ihn seit dreizehn Monaten nicht gesehen. Weder war er zu seiner Abschlussfeier gegangen, noch hatte er ein Geschenk oder auch nur eine Glückwunschkarte geschickt. Nicht einmal angerufen hatte er. Daher herrschte am Tisch genug Spannung, ohne dass das Mannequin Rauchringe blies und Nate ausdruckslos anstarrte.
»Möchtest du ein Bier?« fragte Daniel seinen Vater, als ein Kellner in der Nähe auftauchte. Es war eine grausame Frage, ein kleiner Pfeil, der abgefeuert wurde, um ihn zu quälen.
»Nein, einfach Wasser«, sagte Nate. Daniel rief dem Kellner die Bestellung zu und fragte dann: »Immer noch abstinent, was?«
»Na klar«, sagte Nate lächelnd.
»Und seit dem vorigen Sommer kein Rückfall?«
»Nein. Lass uns von was anderem reden.«
»Dan hat mir gesagt, dass Sie im Entzug waren«, sagte Stef und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus. Es überraschte Nate, dass sie einen vollständigen Satz herausbrachte. Sie sprach langsam, und ihre Stimme klang so hohl, wie ihre Augenhöhlen aussahen.
»Ja, mehrfach. Was hat er Ihnen noch erzählt?«
»Da war ich auch schon«, sagte sie, »aber erst einmal.« Sie schien stolz auf ihre Leistung zu sein und zugleich ihren Mangel an Erfahrung zu bedauern. Die beiden Bierflaschen auf dem Tisch waren inzwischen leer.
»Wie schön«, sagte Nate kühl. Er brachte es nicht fertig, so zu tun, als wäre sie ihm sympathisch. In ein oder zwei Monaten wäre sie ohnehin mit einem anderen Mann zusammen.
»Was macht das Studium?« fragte er Daniel.
»Das habe ich an den Nagel gehängt.« Es klang gezwungen und ärgerlich. Daniel stand erkennbar unter Druck. Bestimmt trug Nate eine Mitschuld daran, dass sein Sohn das Studium aufgegeben hatte, nur war ihm nicht recht klar, inwiefern und warum. Sein Wasser kam. »Habt ihr beiden schon gegessen?« fragte er.
Stef vermied jegliche Nahrungsaufnahme, und Daniel hatte keinen Appetit. Nate hatte zwar schrecklichen Hunger, wollte aber nicht allein essen. Er sah sich im Lokal um. Irgendwo in einer Ecke wurde Haschisch geraucht. Die Geräuschkulisse war laut. Es war noch nicht lange her, dass er sich in solchen Lokalen wohl gefühlt hatte.
Daniel steckte sich die nächste Zigarette an, eine filterlose Camel, der schlimmste Sargnagel auf dem Markt, und blies eine dicke Rauchwolke gegen den billigen Kneipenleuchter, der von der Decke hing. Er war schlecht gelaunt und gereizt.
Bestimmt hatte er die junge Frau mitgebracht, damit es keinen Streit oder gar eine Prügelei gab. Nate vermutete, dass Daniel pleite war und seinem Vater einmal ordentlich die Meinung sagen wollte, weil er ihn nicht genug unterstützt hatte. Auf der anderen Seite aber fürchtete er wohl, dass sich Nate, den er als nicht besonders belastbar kannte, darüber gleich wieder aufregte. Stefs Anwesenheit sollte dafür sorgen, dass er sich zusammennahm.
Außerdem wollte er vermutlich das Zusammentreffen so kurz wie möglich halten. Es dauerte etwa eine Viertelstunde, bis Nate das durchschaut hatte.
»Wie geht es deiner Mutter?« fragte er.
Daniel bemühte sich zu lächeln. »Gut. Ich war Weihnachten bei ihr. Du warst verschwunden.«
»Ich war in Brasilien.«
Eine Studentin in enganliegenden Jeans ging vorüber. Stef musterte sie von
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