Das Testament
Kopf bis Fuß, wobei endlich Anzeichen von Leben in ihre Augen traten. Die junge Frau war noch dürrer als sie selbst. Wieso galt es eigentlich auf einmal als cool, wie ein Gerippe herumzulaufen?
»Was gibt es denn in Brasilien?« fragte Daniel.
»Eine Mandantin.« Nate war es leid, immer wieder von seinem Abenteuer zu erzählen.
»Mama hat gesagt, dass du Ärger mit dem IRS hast.«
»Darüber freut sie sich bestimmt.«
»Möglich. Besondere Sorgen schien es ihr jedenfalls nicht zu machen. Musst du dafür ins Gefängnis?«
»Nein. Könnten wir über etwas anderes reden?«
»Genau das ist der Haken, Papa. Es gibt nichts anderes, nur die Vergangenheit, und da können wir nicht hin.«
Die Schiedsrichterin Stef rollte mit den Augen, als wolle sie sagen: »Das reicht.«
»Warum hast du das Studium geschmissen?« fragte Nate, um die Frage hinter sich zu bringen.
»Aus verschiedenen Gründen. Es wurde langweilig.«
»Er hatte kein Geld mehr«, sagte Stef hilfreich. Sie sah Nate so ausdruckslos an, wie ihr das nur möglich war.
»Stimmt das?« fragte Nate.
»Das ist ein Grund.«
Nate spürte den Impuls, das Scheckbuch zu zücken, um dem Jungen aus der Patsche zu helfen. So hatte er es immer gehalten. Elternschaft war für ihn nichts anderes gewesen als eine unaufhörliche Kette von Zahlungen. Wenn du schon nicht selbst da sein kannst, schick wenigstens Geld. Aber inzwischen war Daniel dreiundzwanzig, hatte das College abgeschlossen und zog mit Gestalten wie Fräulein Bulimie herum. Es war höchste Zeit, dass er lernte, auf eigenen Füssen zu stehen, sonst würde er umfallen.
Außerdem war Nates Scheckbuch nicht mehr das, was es einmal war.
»Das ist gar nicht so schlecht«, sagte er daher. »Arbeite eine Weile, dann lernst du vermutlich die Uni schätzen.«
Stef widersprach. Sie hatte zwei Freundinnen, die das Studium abgebrochen hatten und damit in ein tiefes Loch gefallen waren. Während sie weiterplapperte, zog sich Daniel in seine Ecke der Nische zurück und leerte seine dritte Flasche Bier. Nate kannte jeden denkbaren Vortrag zum Thema Alkohol, wusste aber auch, wie scheinheilig es klingen würde, wenn ausgerechnet er solche Töne anschlüge.
Nach vier Bier war Stef nicht mehr ansprechbar, und Nate hatte nichts mehr zu sagen. Et kritzelte seine Telefonnummer in St. Michaels auf eine Papierserviette und gab sie Daniel. »Hier bin ich in den nächsten Monaten zu erreichen. Ruf an, wenn du mich brauchst.«
»Bis dann, Pa«, sagte Daniel.
»Gib auf dich acht.«
Nate trat in die kalte Nacht hinaus und ging zum Lake Michigan hinüber.
Zwei Tage später traf er in Pittsburgh ein, doch zur vorgesehenen dritten und letzten Wiederbegegnung kam es nicht. Zweimal hatte er Kaitlin, seine Tochter aus erster Ehe, angerufen, und sie hatten sich auf halb acht zum Abendessen in der Halle seines Hotels in der Stadtmitte verabredet. Ihre Wohnung lag zwanzig Minuten entfernt. Um halb neun rief sie an und teilte ihm mit, sie sei im Krankenhaus bei einer Freundin, die bei einem Autounfall eine schwere Kopfverletzung erlitten habe.
Nate schlug vor, am nächsten Tag miteinander zu Mittag zu essen, doch Kaitlin erklärte, das sei nicht möglich, weil die Freundin auf der Intensivstation liege und sie in ihrer Nähe bleiben wolle, bis sich ihr Zustand stabilisiert habe. Als Nate merkte, dass seine Tochter auf Abstand zu ihm ging, erkundigte er sich nach der Adresse des Krankenhauses. Zuerst wusste sie sie nicht, dann war sie nicht recht sicher, bis sie schließlich nach weiterem Nachdenken erklärte, ein Besuch dort sei keine gute Idee, denn sie könne ihre Freundin nicht allein lassen.
Er aß in seinem Zimmer an einem Tischchen neben dem Fenster, von wo sein Blick auf die Straße fiel. Lustlos stocherte er auf dem Teller herum und überlegte, warum seine Tochter ihn nicht sehen wollte. Trug sie einen Ring durch die Nase?
Eine Tätowierung auf der Stirn? War sie einer obskuren Religion beigetreten und hatte sich den Schädel kahl rasieren lassen? Hatte sie fünfzig Kilo zu- oder fünfundzwanzig abgenommen? War sie schwanger?
Er versuchte, ihr die Schuld zuzuschieben, damit er sich nicht dem stellen musste, was auf der Hand lag. War es möglich, dass sie ihn so sehr hasste?
In der Einsamkeit seines Hotelzimmers in einer Stadt, in der er niemanden kannte, war es leicht, sich selbst zu bemitleiden und sich erneut durch die Fehler der Vergangenheit runterziehen zu lassen.
Er griff zum Telefon und rief Phil an, um sich zu
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