Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Testament

Das Testament

Titel: Das Testament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
Vom Netzwerk:
dazu. Es klang fast einlullend, das Lied einfacher Männer, in deren Leben Tage und nicht Minuten zählten, Männer, die nur wenige Gedanken an das Morgen verschwendeten und keine an das, was im kommenden Jahr geschehen mochte oder auch nicht. Er beneidete sie, zumindest solange sie sangen.
    Für jemanden, der noch am Vortag versucht hatte, sich selbst zu Tode zu trinken, war das eine beachtliche Wende. Er genoss den Augenblick, war glücklich, am Leben zu sein, und freute sich auf den weiteren Verlauf seines Abenteuers. Seine Vergangenheit lag buchstäblich in einer Lichtjahre entfernten anderen Welt, auf den kalten, nassen Straßen von Washington.
    Dort konnte nichts Gutes geschehen. Er hatte deutlich bewiesen, dass er unfähig war, dort zu leben, ohne rückfällig zu werden, wo er denselben Menschen wie vorher begegnete, dieselbe Arbeit wie vorher tat, sich bemühte, die alten Gewohnheiten zu vergessen - bis zum nächsten Absturz. Er würde immer wieder abstürzen.
    Welly begann ein Solo, das Nate aus den Gedanken an seine Vergangenheit riss. Es war eine langsame, traurige Ballade. Als sie zu Ende war, lag der Fluss vollkommen im Dunkeln. Jevy schaltete zwei links und rechts vom Bug angebrachte Scheinwerfer ein. Das Navigieren auf dem Fluss war einfach. Der Pegel stieg und fiel mit den Jahreszeiten und war nie besonders hoch. Die flachbödigen Boote waren so gebaut, dass ihnen die Berührung mit den Sandbänken nichts ausmachte, die bisweilen im Weg waren. Unmittelbar nach Einbruch der Dunkelheit lief Jevy auf eine solche Sandbank, und die Santa Loura saß fest. Er fuhr rückwärts, dann wieder vorwärts, und nachdem er fünf Minuten auf diese Weise manövriert hatte, kam das Boot wieder frei. Es war unsinkbar.
    In einer Ecke der Kajüte, nicht weit von den vier Kojen entfernt, aß Nate allein an einem Tisch, der am Fußboden festgeschraubt war. Welly stellte Bohnen und Reis mit Hühnerfleisch sowie eine Apfelsine vor ihn hin. Dazu trank Nate kaltes Wasser aus einer Flasche. Eine nackte Glühlampe pendelte über dem Teller hin und her. In der Kajüte war es heiß und stickig. Welly hatte ihm vorgeschlagen, in der Hängematte zu schlafen.
    Jevy kam mit einer Flusskarte des Pantanal. Er wollte die bisher auf dem Paraguay zurückgelegte Strecke einzeichnen, so kurz sie war. Sie kamen wirklich kaum voran. Zwischen ihrer gegenwärtigen Position und Corumba lag nur ein winziges Stückchen Karte.
    » Das liegt am Hochwasser «, erklärte Jevy. » Zurück geht es viel schneller.«
    Über den Rückweg hatte sich Nate noch nicht viele Gedanken gemacht. »Kein Problem«, sagte er. Jevy wies in verschiedene Richtungen und stellte einige Berechnungen an. »Das erste Indianerdorf liegt in diesem Gebiet«, sagte er und wies auf eine Stelle, die angesichts der bisher zurückgelegten Strecke noch Wochen entfernt schien.
    »Guato?«
    »Sim. Ja. Ich denke, dass wir es da zuerst versuchen sollten. Wenn sie da nicht ist, weiß vielleicht jemand, wo sie sich aufhält.«
    »Wie lange dauert es, da hinzukommen?«
    »Zwei Tage, vielleicht drei.«
    Nate zuckte die Achseln. Die Zeit stand still. Seine Armbanduhr hatte er in der Hosentasche. Seine Sammlung von Stunden-, Tages-, Wochen- und Monatsplanern war längst vergessen. Sein Prozesskalender, die große, unverletzliche Richtschnur seines Lebens, lag in der Schublade irgendeiner Sekretärin. Er war dem Tod um Haaresbreite entronnen; jetzt war jeder neue Tag ein Geschenk.
    »Ich habe viel zu lesen«, sagte er.
    Jevy faltete die Karte sorgfältig wieder zusammen. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung?« fragte er.
    »Mir geht es gut. Ich fühle mich wohl.«
    Jevy hätte gern noch viel mehr gefragt, aber Nate war nicht in der Stimmung, eine Lebensbeichte abzulegen. »Mir geht es gut«, wiederholte er. »Die kurze Reise wird mir gut tun.«
    Er las eine Stunde lang am Tisch im Licht der schwankenden Lampe, bis er merkte, dass er in Schweiß gebadet war. Von seiner Koje nahm er Insektenschutzmittel, eine Taschenlampe und einen Stapel von Joshs Aktennotizen und machte sich vorsichtig auf den Weg nach vorn. Als er die Stufen zum Ruderhaus emporstieg, sah er, dass Welly am Ruder stand und Jevy ein Nickerchen machte.
    Er besprühte Arme und Beine und kletterte dann in die Hängematte. Es dauerte eine Weile, bis er seine Gliedmaßen so geordnet hatte, dass der Kopf höher lag als das Hinterteil. Als er mit seiner Lage zufrieden war und die Hängematte sacht im Rhythmus des Flusses schaukelte, schaltete

Weitere Kostenlose Bücher