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Das Testament

Das Testament

Titel: Das Testament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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zu sehen, ob am dichtbewachsenen Ufer irgendwelche Hinweise auf ein Vorankommen zu sehen waren.
    Die Gegend, durch die sie kamen, schien völlig unbewohnt zu sein. Er sah das Kielwasser hinter dem Boot und merkte, als er einen Baum fest im Auge behielt, dass sie tatsächlich vorankamen, wenn auch äußerst langsam. Die Navigation war auf dem durch die Regenfälle gestiegenen Fluss leichter als sonst, dafür aber ging es flussaufwärts nicht besonders schnell.
    Zwar waren Übelkeit und Kopfschmerzen verschwunden, doch fühlte er sich noch immer ziemlich wacklig. Er versuchte aus der Hängematte zu klettern, in erster Linie, weil er seine Blase erleichtern musste. Es gelang ihm, ohne Zwischenfälle die Füße auf das Deck zu setzen. Während er kurz innehielt, tauchte Welly wie aus dem Nichts auf und gab ihm eine Tasse Kaffee.
    Nate umschloss das warme Porzellan mit beiden Händen und schnupperte. Noch nie hatte etwas besser gerochen. » Obrigado«, dankte er Welly.
    »Sim«, gab dieser mit noch breiterem Lächeln als sonst zurück.
    Nate schlürfte den köstlichen süßen Kaffee und bemühte sich, nicht auf Wellys neugierigen Blick zu reagieren. Der Junge trug die auf dem Fluss übliche Kleidung: eine abgetragene kurze Sporthose, ein altes T-Shirt und billige Gummisandalen, die seine zernarbten harten Fußsohlen schützten. Wie Jevy, Valdir und die meisten Brasilianer, die Nate bisher kennengelernt hatte, war auch Welly schwarzhaarig und dunkeläugig, hatte mehr oder weniger europäische Gesichtszüge und eine braune Haut. Manche Brasilianer waren heller, manche dunkler, auf jeden Fall aber war es ein unverkennbarer Farbton.
    Ich lebe und bin nüchtern, dachte Nate, während er weiterschlürfte. Wieder einmal bin ich hart am Rande der Hölle entlanggeschrammt und hab es überlebt.
    Ich bin abgestürzt, war unten, habe das verschwommene Spiegelbild meines Gesichts gesehen und wäre am liebsten gestorben. Jetzt aber sitze ich hier und atme. Zweimal in drei Tagen hab ich meine letzten Worte gesagt. Vielleicht ist meine Zeit noch nicht gekommen.
    »Mais?« fragte Welly mit einem Kopfnicken zur leeren Tasse.
    »Sim«, antwortete Nate und gab sie ihm. Mit zwei Schritten war der Junge fort.
    Noch steif von der Bruchlandung und zittrig vom Wodka, versuchte Nate, auf die Beine zu kommen. Er blieb einen Augenblick stehen, ohne sich festzuhalten. Das war immerhin schon etwas. Der Weg zurück bestand nur aus einer Reihe kleiner Schritte, und jeder von ihnen war ein kleiner Sieg. Wer sie ohne Niederlage aneinander reihen kann und kein einziges Mal strauchelt, hat es geschafft.
    Endgültig geheilt allerdings ist man nie. Es ist immer nur ein vorläufiger Sieg, er gilt für eine Weile, solange es dauert. Er hatte das Puzzle früher schon einmal gespielt; man musste jedes Stück feiern, das man an die richtige Stelle brachte.
    Im nächsten Augenblick streifte das Boot rumpelnd eine Sandbank, und Nate fiel gegen die Hängematte. Als der Ruck in die Gegenrichtung kam, wurde er zu Boden geschleudert, wo er mit dem Kopf auf eine Planke schlug. Er rappelte sich auf und hielt sich mit einer Hand an der Reling, während er mit der anderen seinen Kopf betastete. Kein Blut, nur eine kleine Beule. Aber der Stoß hatte ihn aufgeweckt, und als er wieder klar sehen konnte, schob er sich an der Reling entlang langsam zur kleinen, engen Brücke vor, wo Jevy auf einem Hocker saß und eine Hand lässig über das Steuerrad gelegt hatte.
    Sein brasilianisches Lächeln blitzte auf, dann fragte er: »Wie fühlen Sie sich?«
    »Viel besser«, sagte Nate, fast beschämt. Allerdings war Scham eine Empfindung, die er schon vor Jahren abgelegt hatte. Ein Süchtiger kennt kein Schamgefühl. Er hat sich so oft mit Schande bedeckt, dass er dagegen immun wird.
    Kaffeetassen in beiden Händen kam Welly die Stufen empor geeilt. Eine Tasse gab er Nate, die andere Jevy. Dann setzte er sich auf eine schmale hölzerne Bank neben den Bootsführer.
    Langsam ging die Sonne hinter den fernen Bergen Boliviens unter. Im Norden, unmittelbar vor ihnen, bildeten sich Wolken. Die Luft war leicht und viel kühler als zuvor. Jevy holte sein T-Shirt und zog es an. Nate fürchtete, es werde wieder ein Unwetter geben. Da der Fluss nicht breit war, konnten sie doch bestimmt das verdammte Boot am Ufer an einem Baum festmachen.
    Sie näherten sich einem kleinen, quadratischen Haus. Es war die erste menschliche Behausung, die Nate seit Corumba sah. Man konnte Anzeichen von Leben

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