Das Teufelslabyrinth
einen sehr guten Grund haben - zumindest täte er gut daran, einen solchen vorzuweisen.
In der hintersten Ecke des Speisesaals entdeckte Bruder Francis Clay Matthews, Kips Zimmergenossen, der mit seiner üblichen Freundesrunde zusammensaß, und als er beim Näherkommen die Spielkarten auf dem Tisch sah, wusste er auch, warum die Jungs sich in diese Ecke verdrückt hatten.
»Hi, Bruder Francis«, rief Tim Kennedy so betont laut und freundlich, dass der junge Geistliche sofort ahnte, dass diese Begrüßung nicht wirklich ihm galt, sondern vielmehr als Warnsignal für seine Freunde gedacht war. Und tatsächlich fuhren die Köpfe der anderen Jungs im gleichen Moment in die Höhe.
Bruder Francis setzte seine strengste Miene auf. »Vermutlich wisst ihr alle, dass Glücksspiele gegen unsere Hausregeln verstoßen«, begann er, worauf die Jungs unbehagliche Blicke wechselten. »Stellt euch vor, was passiert wäre, wenn Schwester Mary David euch an meiner Stelle erwischt hätte!«
Während die anderen Jungs etwas blass um die Nase wurden, gab sich José Alvarez größte Mühe, ein völlig unschuldiges Gesicht zu machen. »Glücksspiel?«, wiederholte er verständnislos, so als ob Bruder Francis Chinesisch mit ihnen gesprochen hätte.
»Wir spielen doch nur Mau-Mau«, erklärte Darren Bender.
»Verstehe«, meinte Bruder Francis und streckte auffordernd die Hand nach den Karten aus. Clay Matthews seufzte, schob die Karten zu einem Packen zusammen und händigte sie Bruder Francis aus, der sie in einer der
tiefen Taschen seiner Kutte verschwinden ließ. »Sagt mal, hat einer von euch Kip gesehen?«, fuhr er dann fort. »Er war nämlich nicht im Mathematikunterricht.«
Die Jungs schüttelten die Köpfe. »Vielleicht liegt er noch im Bett«, meinte Clay. »Ich glaube, er hat sich nicht wohlgefühlt.«
Bruder Francis schürzte die Lippen. »Ach so? Ist er auf die Krankenstation gegangen?«
Clay zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. So krank war er wohl nicht, ich meine, er hatte keine Grippe oder so, hat sich nur irgendwie komisch benommen.«
»Wie komisch?«, fragte Bruder Francis, obwohl er ziemlich sicher war, dass eine Antwort, sollte er wider Erwarten eine bekommen, nicht sonderlich erhellend sein dürfte. Und tatsächlich zuckte Clay nur abermals die Schultern. »Na gut«, meinte er dann. »Ich gehe ihn suchen. Und falls ihr ihn inzwischen seht, sagt ihm bitte, er soll in mein Büro kommen.«
Bruder Francis verließ den Speisesaal und machte sich auf den Weg durch das Labyrinth von Fluren und Treppen, das all die verschiedenen Gebäude miteinander verband, in denen sich die Schule seit ihrem hundertjährigen Bestehen auf dem Beacon Hill ausgebreitet hatte. Er unterrichtete hier zwar bereits seit acht Monaten, doch es passierte ihm immer noch gelegentlich, dass er sich in Gängen oder Korridoren wiederfand, in denen er noch nie gewesen zu sein glaubte. In diesen uralten Gebäuden waren nicht nur zahllose Büros und Klassenzimmer untergebracht, sondern auch die Schlaftrakte der Schüler sowie die Wohnungen der Lehrer und Angestellten.
Die Schüler hingegen schienen sich in diesen weit verzweigten alten Gemäuern bestens zurechtzufinden und kannten Abkürzungen, die ihm bislang verborgen geblieben
waren. Immerhin gelang es ihm inzwischen, den Weg vom Speisesaal zu den Zimmern der Jungs zu finden, ohne sich zu verlaufen.
Jedenfalls nicht gänzlich zu verlaufen.
Er klopfte an die Tür von Zimmer 231, erhielt aber keine Antwort. »Kip?«, rief er und klopfte noch einmal, ehe er die Tür öffnete und eintrat.
Das Zimmer war so ordentlich, wie es die Schulstatuten verlangten. Die beiden Betten waren akkurat gemacht, die Schreibtische aufgeräumt, die Schranktüren geschlossen und die Oberfläche der Kommode leer.
Aber von Kip keine Spur; kein Hinweis auf seinen Verbleib.
Um sich den weiten Weg zur Krankenstation zu ersparen, die genau auf der anderen Seite der Schule lag, benutzte Bruder Francis sein Handy, um dort anzurufen, und erhielt von der diensthabenden Nonne die Auskunft, dass Kip sich auch dort nicht gemeldet habe.
Mit einem unbehaglichen Gefühl im Bauch klappte Bruder Francis das Handy zu.
Er ging ans Fenster und schaute über den Beacon Hill; von hier oben aus hatte man einen ungehinderten Blick bis hinunter zum Charles River und weiter bis nach Cambridge. Und dabei sinnierte er darüber nach, was die damaligen puritanischen Gründer der Stadt wohl von einer katholischen Schule gehalten hätten, die
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