Das Teufelsspiel
konnte. Und er verlegte sich auf deutlich größere, aber schneller angefertigte Graffiti. Er wurde ein wahrer Meister darin, einen U-Bahn-Wagon in voller Höhe zu besprühen. Die Linie A, angeblich die längste Linie der Stadt, war sein Lieblingsziel. Tausende von Besuchern fuhren vom Kennedy Airport mit einem Zug nach Manhattan, auf dem nicht Willkommen im Big Apple stand, sondern die geheimnisvolle Botschaft Jax 1 57.
Bis zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag hatte Jax es zweimal geschafft, eine komplette Wagonseite mit seinen Graffiti zu bedecken, und einmal fast einen ganzen Zug, was der Traum eines jeden Graffitikönigs war. Auch einige echte Meisterwerke gingen auf sein Konto. Jax hatte versucht zu beschreiben, was darunter zu verstehen war, aber ihm fiel dazu nichts anderes ein, als dass ein solches Bild etwas mehr enthielt. Etwas Atemberaubendes. Ein Werk, bei dessen Anblick sowohl ein verblödeter Cracksüchtiger, der in der Gosse saß, als auch ein Wall-Street-Broker, der jeden Tag mit dem Zug aus New Jersey kam, denken würde: Mann, das ist ja verdammt cool.
Das waren noch Zeiten, dachte Jax. Er als ein Graffitikönig inmitten der einflussreichsten schwarzen Kulturbewegung seit der Harlem-Renaissance: Hip-Hop.
Sicher, die Renaissance musste klasse gewesen sein. Aber nach Jax’ Ansicht war sie eher etwas für Intellektuelle. Sie ging vom Kopf aus. Hip-Hop brach aus der Seele und dem Herzen hervor. Er wurde nicht in Colleges und Schriftstellerapartments geboren, sondern direkt auf den Straßen, bei den zornigen, erbittert kämpfenden und verzweifelten Kids, die ein unglaublich hartes Leben erdulden mussten und aus zerbrochenen Elternhäusern stammten. Auf den Gehwegen ihrer Viertel lagen die gebrauchten Spritzen der Junkies neben getrockneten braunen Blutflecken. Hip-Hop war der ungefilterte Aufschrei jener Leute, die schreien mussten, um gehört zu werden … und er hatte vier Standbeine: Musik bei den DJs, Poesie in den Raps der MCs, Tanz bei den Breakdancern und Kunst auf Jax’ Spezialgebiet, den Graffiti.
Er blieb auf der Hundertsechzehnten Straße stehen und schaute zu der Stelle, an der es einst eine Woolworth-Filiale gegeben hatte. Sie war dem Chaos nach dem berühmten Stromausfall von 1977 zum Opfer gefallen, doch in ihren Räumlichkeiten hatte ein wahres Wunder stattgefunden: Harlem World wurde gegründet, der wichtigste Hip-Hop-Club des Landes. Drei Etagen mit jeder Art von Musik, die man sich vorstellen konnte, radikal, süchtig machend, elektrisierend. Breakdancer, die sich rasend schnell drehten und wie Sturmwellen wanden. DJs, die in zum Bersten vollen Tanzsälen auflegten, und MCs, die eins mit ihren Mikrofonen wurden und den Raum mit ihren rauen, knallharten Versen füllten, die im Rhythmus eines echten Herzschlags pulsierten. In Harlem World fanden die ersten Wettkämpfe zwischen Rappern statt. Jax hatte das Glück gehabt, jenes dieser Wortgefechte miterleben zu dürfen, das heute als das berühmteste aller Zeiten galt: die Cold Crush Brothers und die Fantastic Five …
Harlem World existierte natürlich schon lange nicht mehr. Und auch Jax’ Tausende von Kürzeln und Bildern waren verschwunden abgewaschen, verblasst oder übermalt –, genauso wie die der anderen Graffitilegenden der frühen Hip-Hop-Ära, Julio, Kool und Taki, der Könige der Graffiti.
Mittlerweile war oft vom angeblichen Niedergang des Hip-Hop die Rede; es gab Internet- und Satellitenradio, millionenschwere Rapper in verchromten Humvees, Bad Boys II, Bigbusiness, weiße Kids aus den Vorstädten, iPods und MP3-Downloads. Es war … nun, zum Beispiel Folgendes: Jax sah einen Doppeldeckerbus am Straßenrand halten, versehen mit dem Schriftzug Rap/Hip-Hop Tours. Erleben Sie das echte Harlem! Die Insassen waren schwarze, weiße und asiatische Touristen. Er schnappte ein paar Wortfetzen aus dem routiniert heruntergeleierten Text des Fahrers auf. Der Mann versprach soeben, man werde in Kürze bei einem »authentischen Soulfood-Restaurant« eine Mittagspause einlegen.
Jax war dennoch nicht der Ansicht, die gute alte Zeit sei endgültig vorbei. Das Herz von Uptown blieb unversehrt. Nichts konnte jemals etwas daran ändern. So wie beim Cotton Club, dachte er, dieser Jazz- und Swing-Institution aus den zwanziger Jahren. Das hielten auch alle für das echte Harlem, nicht wahr? Wer wusste schon, dass damals ausschließlich weißes Publikum zugelassen war? Sogar der berühmte, in Harlem beheimatete W. C. Handy, einer der
Weitere Kostenlose Bücher