Das Teufelsspiel
schickte sein Sondereinsatzkommando nicht in einem gepanzerten Mannschaftstransporter los, sondern in ganz gewöhnlichen Streifenwagen und Bussen. Die ESU-Ausrüstung gelangte in einem unauffälligen blau-weißen Lieferwagen an den Einsatzort. Eines dieser Fahrzeuge stand nun in der Nähe des Ladens geparkt und diente als Leitstelle.
Sachs und Sellitto legten kugelsichere Westen mit extra verstärkter Herzregion an und begannen ihre Runde durch Little Italy. Das Viertel hatte sich in den letzten fünfzehn Jahren drastisch verändert. Die ehemals riesige Enklave italienischer Einwanderer aus der Arbeiterschaft war fast zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft, weil das südlich gelegene Chinatown sich immer mehr ausgedehnt hatte und aus Norden und Westen junge Angehörige höherer Berufsstände zugezogen waren. Die beiden Detectives kamen auf der Mulberry Street an einem Haus vorbei, das den Wechsel anschaulich verdeutlichte. Es hatte seinerzeit den Ravenite Social Club beherbergt, Heimat des Gambino-Clans, der von dem längst verstorbenen John Gotti geleitet wurde. Zunächst hatte die Regierung das Gebäude samt dem Club beschlagnahmt – was ihm den unvermeidlichen Spitznamen »Club Fed« einbrachte –, und nun handelte es sich um ein ganz gewöhnliches Geschäftsgebäude, das einen Mieter suchte.
Sachs und Sellitto entschieden sich für einen Häuserblock und machten sich an die Arbeit. Sie zeigten ihre Dienstmarken und das Bild des Verdächtigen vor und grasten sämtliche Straßenverkäufer und Geschäfte ab, befragten halbwüchsige Schulschwänzer, die Starbucks-Kaffee tranken, und Rentner, die auf Bänken oder Vordertreppen saßen. Über Funk hörten sie die Meldungen der anderen Beamten. »Nichts … Grand ist negativ. Kommen … Verstanden … Hester ist negativ. Kommen … Wir versuchen ’s im Osten …«
Sellitto und Sachs folgten ihrer eigenen Route und hatte ebenso wenig Glück wie die anderen.
Hinter ihnen ertönte ein lauter Knall.
Sachs erschrak – nicht wegen des Geräuschs, das sie sofort als Fehlzündung eines Lastwagens erkannte, sondern wegen Sellittos Reaktion. Der Detective war zur Seite gesprungen und sogar hinter einer Telefonzelle in Deckung gegangen. Seine Hand lag auf dem Kolben seiner Waffe.
Nun schaute er betreten drein und räusperte sich. Dann lachte er leise auf. »Verdammte Laster«, murmelte er.
»Ja«, sagte Sachs.
Er wischte sich das Gesicht ab, und sie gingen weiter.
Thompson Boyd saß in seinem sicheren Versteck in Little Italy, las in einem Buch eine Anleitung und glich sie mit den Gegenständen aus dem Einkauf ab, den er eine Stunde zuvor in dem Werkzeugladen getätigt hatte. Von einem der nahen Restaurants roch es nach Knoblauch.
Boyd markierte einige Seiten mit gelben Klebezetteln und machte sich am Rand Notizen. Sein Vorhaben war ein wenig heikel, aber auf jeden Fall durchführbar. Wenn man sich ausreichend Zeit ließ, war alles möglich. Das hatte er von seinem Vater gelernt. Und es galt für simple und komplizierte Aufgaben gleichermaßen.
Der einzige Unterschied ist die Größe.
Er schob sich von dem Tisch zurück, der gemeinsam mit einem Stuhl, einer Lampe und einem Feldbett das gesamte Mobiliar ausmachte. Ein kleines Fernsehgerät, ein Kühlschrank, ein Mülleimer. Außerdem gab es hier einen kleinen Vorrat an Dingen, die er für seine Arbeit benötigte. Thompson hob den Latexhandschuh an seinem rechten Handgelenk an und blies hinein, um sich die Haut zu kühlen. Dann tat er das Gleiche auf der linken Seite. (Man musste stets davon ausgehen, dass ein Versteck irgendwann entdeckt werden würde, also traf man Vorkehrungen, um keine verräterischen Spuren zu hinterlassen; man trug beispielsweise Handschuhe oder installierte eine Falle.) Seine Augen schmerzten heute wie verrückt. Er verzog das Gesicht, träufelte sich ein paar Tropfen auf die Bindehaut, und das Brennen ließ nach. Er schloss die Lider.
Und pfiff leise die beklemmende Melodie aus dem Film Unterwegs nach Cold Mountain.
Soldaten, die auf Soldaten schossen, diese große Explosion, Bajonette. Die Bilder des Films zogen an seinem inneren Auge vorbei.
Sssst …
Das Lied und die Bilder verschwanden. An ihre Stelle trat klassische Musik. »Bolero«.
Meistens wusste er nicht, woher die Klänge kamen. Es war, als gäbe es in seinem Kopf einen CD-Wechsler, den eine fremde Person programmiert hatte. Bei »Bolero« verhielt es sich anders. Sein Vater, dieser große, kräftige Mann mit dem
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