Das Tier
hochzuhalten.
Schon wieder diese dummen Tränen. Cyrian wischte sie beiseite. Tränen halfen nicht. Im Gegenteil, sie verschleierten die Sicht, ließen die Nase laufen, an die er sich im Moment wirklich nicht erinnern wollte und hinderten beim Denken. Mit Tränen konnte er dem Tier garantiert nicht beistehen.
Denk nach! Irgendetwas musste er doch tun können!
Cyrian kramte das Messer heraus, das er gestohlen hatte. Es hatte zumindest keine Rostflecken, war aber viel zu kurz, um mehr damit zu tun als Schinkenscheiben zu schneiden. Mit dem Ding könnte er Thars’ Leiden verkürzen, indem er es ihm ins Herz rammte, an die Kugel käme er nicht heran. Jedenfalls nicht, ohne ihn vollends zu verstümmeln. Außerdem traute er sich ein solches Unterfangen nicht zu. Nicht, dass er Probleme mit dem Anblick von Blut hätte, bloß allzu viel auf einmal wollte er nicht sehen müssen …
„Mein süßer Engel, zerbrich dir nicht den Kopf. Nicht wegen mir. Die Welt ist besser dran ohne mich.“
„Warum? Ich meine … Ja, du bist ein Mörder, aber warum bist du so seltsam?“ Cyrian wich unwillkürlich ein Stück zurück bei diesen Worten, falls Thars sie ihm übel nehmen würde.
„Das ist eine verdammt lange Geschichte …“, murmelte Thars und streckte die Hand nach ihm aus. Ein wenig zögerlich wagte Cyrian sich wieder vor, aber die kräftigen Finger schlossen sich sanft um die seinen, ohne ihn wirklich festzuhalten.
„Es bräuchte einen fähigen Arzt, um mich zu retten. Es gibt keinen, dem ich vertraue. Diejenigen, von denen ich dachte, sie wären auf meiner Seite, haben mich verraten. Lass mich zurück, Cyrian. Ich bin dankbar, dass der Schöpfer mich ein letztes Mal Schönheit sehen und Freiheit riechen ließ …“
Thars’ Worte kamen kaum bei Cyrian an. Sein Verstand war bei ‚Arzt’ hängen geblieben. Er kannte einen Arzt. Einen sehr guten Arzt sogar. Geduldig wartete er, bis Thars von Schmerzen und Erschöpfung überwältigt eingeschlafen war, dann streifte er die gestohlene Kleidung über. Die Sachen waren zu lang und viel zu weit, doch mit Umkrempeln der Säume und dem Gürtel würde er sich in die Stadt wagen können. Die Stiefel probierte er erst gar nicht an, sie würden eventuell Thars passen. Dem legte er den Mantel über, als Schutz vor Kälte und auch, damit keine Insekten oder andere Viecher in die Wunde kriechen konnten. Oder zumindest nicht allzu leicht. Das Messer steckte er ein – sollte das Tier sich verteidigen müssen, bräuchte eher das Opfer eine Waffe – alles andere verbarg er hinter einem Haufen Steine. Er sah aus wie ein Bettler mit seiner sackartigen Bekleidung und den bloßen Füßen, und die kaputte Nase machte das Bild vermutlich komplett. Es würde schwer werden, zu seinem Ziel zu gelangen … Nun, Cyrian hatte das eine oder andere in diesem Leben gelernt, das er nutzen konnte.
Es fühlte sich nicht gut an, den Mann bewusstlos zurückzulassen, aber ein Arzt würde nicht vorbeispazieren, nur weil Cyrian sich das sehnlich wünschte. So funktionierte das nicht einmal, wenn Brudfor sich gnädig zeigte.
„Bleib schön hier“, murmelte er zum Abschied und strich scheu durch Thars’ zotteliges Haar. „Ich beeile mich, versprochen. Du rührst dich nicht weg, und wag es nicht, bei meiner Rückkehr tot zu sein!“
„Mach, dass du wegkommst, dreckiges Bettlergezücht!“ Ein Kutscher holte mit der Peitsche nach Cyrian aus, der allerdings leichtfüßig ausweichen konnte. Er hatte Stunden gebraucht, um die Innenstadt zu erreichen. In den miesen Vierteln war er niemandem aufgefallen. Bereits in der Rotenbachstraße, die er mit mulmigem Gefühl durchquert hatte – nicht, dass er den Stadtwächtern begegnete, die ihn verschleppt hatten! – folgten ihm kritische Blicke. Inzwischen lief er jedoch durch noblere Straßen. Solche, in denen teure Kutschen mit Familienwappen fuhren und die luxuriösen Villen durch schmiedeeiserne Zäune und kleine Vorgärten von Dreck und Lärm abgegrenzt wurden. Er hielt eine Kiste mit Erdbeeren in den Armen, die er auf dem Markt in der Unterstadt gestohlen hatte. Meister Flinkfinger hätte geweint vor Stolz, hätte er ihn gesehen! Niemand hatte ihn bemerkt, er konnte einfach mit seiner Beute davonstolzieren. Es diente ihm als Tarnung. Zweimal hatte die Stadtgarde ihn bereits aufgehalten und anstandslos weiterlaufen lassen, als er behauptete, ein Lieferbote zu sein. Die Gardisten glaubten ihm zwar nicht, ihre Blicke auf seine armselige Erscheinung sprachen
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