Das Tier
hielt?
„Warum bist du hergekommen? Für solche Verletzungen gibt es in deinem Viertel genügend Ärzte, die du auf deine Weise hättest bezahlen können.“ Doktor Lerome setzte sich ihm gegenüber hin und musterte ihn scharf.
So viel zur Idee, die Klappe zu halten!
„Ich brauche einen Arzt, aber nicht für mich“, sagte Cyrian zögernd. „Es geht um jemanden, der schwer verletzt ist. Jemand, der mir das Leben gerettet hat. Ich kann keinen gewöhnlichen Arzt holen, denn der würde sofort die Garde rufen und dafür sorgen, dass dieser Jemand in den Kerker geworfen wird.“
„Also bist du auf mich verfallen, weil du mich erpressen kannst“, erwiderte Doktor Lerome, als Cyrian ins Schweigen fiel. Panisch starrte er den Mann an, spannte alle Muskeln, um zu fliehen, sollte es nötig sein. Doch der Mann wirkte ruhig, eher amüsiert als wütend. War das ein gutes Zeichen?
„Mir ist klar, mein lieber Junge, dass ein Wort von dir genügt, um meinen Ruf zu ruinieren. Selbst wenn ich alles abstreite, würde etwas hängen bleiben. Ich habe immer gewusst, dass mein Lebenswandel mich eines Tages ruinieren würde …“
Gedankenverloren blickte Doktor Lerome aus dem Fenster.
„Nun, wo ist er denn, dein Freund? Und warum würde er im Kerker landen?“
„Er ist am Meer, versteckt in einer kleinen Höhle. Es ist ein ganzes Stück von hier entfernt.“
„Ja, weiter.“ Der scharfe Blick ließ keinen Zweifel, dass der Doktor sich nicht rühren würde, bevor er nicht alles wusste.
„Er ist … er … es ist das Tier“, flüsterte Cyrian.
Lerome starrte den Jungen vor sich an. Die dunklen Augen, die er bislang nur im Schein der Gaslaternen hatte sehen können, erwiderten seinen Blick voller Angst. Nein, der Liebesdiener würde ihn nicht erpressen, wurde ihm klar. Er hatte offenbar in seiner Verzweiflung nicht gewusst, an wen er sich sonst hätte wenden können.
„Seit wann ist dir bewusst, wer ich bin?“, fragte er trotzdem nach.
„Seit einem halben Jahr. Ihnen ist eine Visitenkarte aus der Tasche gefallen. Ihr Wappen war darauf.“
„Du hättest mich schon längst erpressen können“, stellte Lerome fest. Der Junge biss sichtlich die Zähne zusammen und zuckte mit den Schultern.
„Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe? Ich will, dass Sie das Tier behandeln.“
„Ja, ich habe dir zugehört.“ Und er hatte den Tumult mitbekommen, den die Stadtgarde in der Nacht veranstaltet hatte. In Zehnertruppen waren sie scharenweise durch die Straßen gezogen, mit Laternen und Pistolen und schlecht ausgebildeten Hunden, die jeder räudigen Ratte hinterherjagten.
„Es … es wundert Sie überhaupt nicht?“ Der Junge befingerte vorsichtig das Pflaster auf seiner Nase.
„Mich wundert es lediglich, was du mit dem Tier zu tun hast. Aber das kannst du mir unterwegs erzählen.“
Das Gesicht des Jungen leuchtete auf. Verflixt, der Bengel war wirklich eine Schönheit, trotz der leuchtenden Prellungen und der verschorften Lippe. Brudfor! Was diese Lippen bereits alles mit ihm angestellt hatten … Hastig erhob sich Lerome und klappte seine Tasche zu.
„Sie werden ihm helfen?“, vergewisserte sich der Junge.
„Ich helfe jedem, der medizinische Hilfe braucht. Darauf habe ich einen Eid geschworen. Über das danach machen wir uns hinterher Gedanken. Einverstanden?“
„Es könnte Sie zerreißen“, gab der Junge zu bedenken.
Sollte das etwa eine Drohung oder eine Warnung sein? Lerome ergriff die Tasche und drehte sich wieder zu ihm um.
„Ist das Tier für dein zerschundenes Gesicht verantwortlich?“, fragte er. Der blonde Lockenschopf wurde nachdrücklich geschüttelt, bis der Schmerz in der Nase sichtlich zu heftig wurde.
„Die Wachen haben mich in den Kerker gesteckt. Ohne jeden Grund. Und dann …“
Lerome winkte ab. Den Rest konnte er sich denken. Dazu waren ihm die Reize des Jungen viel zu vertraut.
„Komm mit. Wenn es da draußen einen Verletzten gibt, sollten wir ihn nicht länger warten lassen.“
„Er ist weg! Er ist weg!!! Verdammt! Er sollte auf mich warten.“ Aufgeregt rannte Cyrian in der Höhle umher. Thars musste aufgewacht sein. Ein großer Teil des Proviants fehlte – hatte er wirklich die Hälfte des riesigen Schinkens verspeist? – und auch die gestohlene Kleidung war verschwunden. Die Segeltuchtasche des Seebären mit ihrem Inhalt stand neben den Resten der Mahlzeit, die hier genossen worden war.
„Vielleicht hat sich das Tier bloß versteckt, als es mich in deiner
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