Das Tier
wohl verkrochen hatte? Das hier musste ein furchtbarer Schock für ihn gewesen sein!
Thars öffnete seine Sinne. Im Haus war sein süßer Engel nicht. Auch nicht im Garten. Unruhig stand er auf. Cyrian war nicht in der Nähe! Einen Moment später befand Thars sich auf der Straße vor der Grünen Villa. Zum Glück hatte er seine Schuhe nicht ausgezogen und trug ordentliche Kleidung, in der er unter den abendlichen Spaziergängern nicht weiter auffiel. Alles Gaben des Doktors. Brudfor, er verdankte diesem Mann so viel!
Bei Gelegenheit werde ich ihm sagen, dass Marwin nur auf ein Zeichen von ihm wartet …
Es war einfach, Cyrians Fährte zu folgen. Sein einzigartiger Duft nach frischem Zedernholz, nach dem Honigblond seiner Haare, der scheuen Unschuld seines Lächelns, nach der Lavendelseife, mit der er sich ständig die Hände waschen musste, der Wolle seiner Kleidung, den Farbpigmenten, mit dem diese gefärbt worden war, den Zitronen, die er für die Limonade ausgepresst hatte, dem Hauch von Angst und Erschrecken nach den Erlebnissen heute Nachmittag und so vielem mehr, das alles setzte sich zu einer hellblau leuchtenden Spur zusammen, die ihn direkt zu seinem Engel führen würde. Nach einer Weile änderte sich die Witterung allerdings. Thars blieb stehen und hob die Nase in den Wind. Cyrian kam ihm entgegen. Er trug nun eine Reihe beunruhigender Gerüche mit sich: Nach Erde, Blut, Gewalt, Leder, Tränen, Verzweiflung, Todesangst …
Thars’ Denken verlor sich, er rannte. Sein Engel war in Gefahr, er wurde verfolgt!
Cyrian hatte die Wächter längst entdeckt, die sich ihm an die Fersen gehängt hatten. Eine Weile lang waren sie weit hinter ihm geblieben, hatten ihn lediglich bedrängt, wenn er versuchte, in eines der belebteren Stadtviertel abzubiegen. Jetzt war er in einer einsamen Gasse gelandet. Der Weg zurück war verstellt. Verstecke gab es nicht. Die Mauern waren zu hoch, und irgendwo klopfen und um Hilfe flehen wäre vergebene Mühe – niemand würde für einen blutenden Jungen in zerrissener, schmutziger Kleidung einen Finger rühren, sobald die Garde ins Spiel kam. Verdammt, er hätte daran denken müssen, dass die Bastarde nach ihm Ausschau halten würden! Die wollten um jeden Preis an das Tier gelangen.
Und wenn ihr mir jeden Knochen einzeln brecht, ich verrate Thars nicht!
Das warme Licht der Laternen enthüllte eine Gestalt, die auf ihn zuschritt. Das war vermutlich sein Lieblingsgardist.
Brudfor, wenn ich gleich zu dir komme, müssen wir ein ernstes Gespräch führen. So war das hier nicht gedacht! Du kannst mich nicht sterben lassen. Thars wollte mir beibringen, wie ich meinen Namen schreibe. Das geht so ganz einfach nicht!
Flucht war zwecklos. Cyrian kauerte sich am Boden nieder. Verdammt, warum musste er einen solch grausamen Tod erleiden? Seine Mutter war volltrunken eine Treppe herabgefallen und hatte sich das Genick gebrochen. Sie war ein schlechter Mensch gewesen und hatte solch einen leichten und schnellen Tod gehabt.
Cyrian biss die Zähne zusammen, damit sie mit dem würdelosen Klappern aufhörten. Er hatte Angst …
„Na schau, da ist sie ja, die kleine Ratte.“
Grobe Hände zerrten ihn in die Höhe. Zu zerschlagen, um sich zu wehren, ließ Cyrian sich im Griff des Gardisten hängen.
„Wir nehmen ihn mit. Hier auf offener Straße können wir ihn nicht verhören. Na komm schon, kleines Flittchen! Da ist ein wunderschönes Verlies, das leer steht. Du kennst es bereits. Darin können wir mit dir machen, was immer wir wollen und du darfst schreien so laut wie du willst. Es ist eine feine Belohnung auf das Tier ausgesetzt, und die wirst du uns nicht vermiesen!“
Sie packten ihn links und rechts an den Armen und schleiften ihn mit sich. Noch bevor sie allerdings das Ende der Gasse erreicht hatten, blieben sie abrupt stehen.
„Heda! Gehen Sie weiter, Mann!“
Cyrian hob den Kopf. Thars stand da, mitten auf dem Bürgersteig, die Arme vor der Brust verschränkt. Seine mächtige Gestalt versperrte den Gardisten den Weg.
Brudfor, nein! Sie werden dich erkennen, lauf weg!, dachte Cyrian verzweifelt. Er spürte das Zögern seiner Peiniger. Thars war gekleidet wie ein reicher Bürger, glatt rasiert, das Haar kaum eine Handbreit lang. Sein Gesicht befand sich im Schatten, sie konnten ihn nicht sicher identifizieren.
„Mein Herr, gehen Sie bitte weiter“, sagte einer der Männer nervös. „Wir haben hier einen Verbrecher und müssen …“
„Der Junge gehört mir“, flüsterte
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