Das Tier
Thars. Er trat einen Schritt vor, wobei er für einen Sekundenbruchteil von Laternenlicht gestreift wurde. Cyrian atmete innerlich auf, als er sah, dass Thars’ Augen menschlich waren.
Einen Moment später stürzte er zu Boden, als er seinen Wächtern entrissen wurde. Alles ging blitzschnell. Klatschen, dumpfe Schreie, Ächzen, Gewinsel. Thars musste sich nicht in ein Tier verwandeln, um mit drei ausgewachsenen Männern fertig zu werden. Wie sehr Cyrian ihn beneidete! Er brachte die Kerle nicht um, obwohl es um die ganz gewiss nicht schade gewesen wäre. Drei, vier Schläge, dann hatten die Dreckskerle gebrochene Nasen und wälzten sich jammernd über die Erde. Das geschah ihnen recht! Cyrian wurde ohne weitere Umstände hochgehoben und fortgetragen. Was war er froh und dankbar! Schluchzend schmiegte er sich an Thars’ stählernen Körper.
„Die haben mich ausgepeitscht“, wimmerte er. „Wollten wissen, wo du bist. Und mein ganzes Geld ist weg. Ich hab’s ein Leben lang gespart, alles weg!“
Thars wandte den Kopf und versuchte, die Witterung des Geldes aufzunehmen. Schnell erhaschte er den Geruch von Metall und Leinen, behaftet mit Cyrians Duft. Zwei Männer kämpften um den Beutel. Opiumsüchtige. Thars zögerte – er könnte den Schatz zurückerobern. Doch dafür müsste er fast eine Meile laufen, obwohl es in Luftlinie kaum ein Steinwurf entfernt war. Der Schatz in seinen Armen brauchte allerdings Hilfe, und das schnell. Die Hiebe und Tritte hatten Cyrian nicht lebensgefährlich verletzt, aber er befand sich in einem Schockzustand, der sich zunehmend verstärkte. Daran konnte man schlimmstenfalls sterben, wenn man da nicht rausgeholt wurde!
„Du bekommst es zurück, versprochen!“, murmelte er, während er Cyrian an sich presste, um ihn so gut wie möglich zu wärmen. Sein Engel zitterte viel zu stark! Zugleich verfiel er in einen gleichmäßigen Laufrhythmus mit langen, ausgreifenden Schritten. Sämtlichen Gardepatrouillen und größeren Gruppen von Spaziergängern wich er aus, mit allen Sinnen darauf konzentriert, möglichst von niemandem gesehen zu werden. Die drei Bastarde, die Cyrian gequält hatten, würden ihn beschreiben können. Er wollte auf keinen Fall, dass Doktor Lerome wegen ihm in Schwierigkeiten geriet. Bald musste er eine Entscheidung treffen, wie er sein weiteres Leben führen würde. Nicht heute, nicht morgen, aber bald musste er Doktor Lerome verlassen. Am besten war es, er ließ diese Stadt, womöglich sogar dieses Land hinter sich …
Viel zu lange dauerte es ihm, bis er endlich wieder bei der Grünen Villa angekommen war. Hier begegnete er dem Doktor, der ihr Verschwinden bereits bemerkt hatte. Mit knappen Worten erzählte Thars, was geschehen war, während er Cyrian ins Haus trug.
„Du bist jetzt sicher, mein Engel“, wisperte er in Cyrians Ohr. Das zarte Lächeln, das er dafür erhielt, war ihm kostbarer als alle Himmelsgaben …
Berauscht von Laudanum lag Cyrian unter warmen Decken. Seine Wunden waren versorgt und mit Verbänden versehen. Thars hatte ihn eigenhändig gebadet und in ein Nachtgewand gehüllt. Wie ein kleines Kind hatten sie ihn gehätschelt. Das war wundervoll gewesen, schließlich war er als kleines Kind nie gehätschelt worden. Und es war schrecklich, denn Cyrian wusste jetzt, dass er es satt hatte. Ja, sein jungenhaftes Aussehen war sein größtes Kapital gewesen. Damit hatte er sein Geld verdient und er hatte einen Schatz angespart für den Tag, an dem er dieses Kapital verlieren würde. Dieser Schatz war fort. Trauern half da nichts. Nein, es war Zeit erwachsen zu werden. Er wollte ein Mann sein, der sich selbst behaupten konnte!
Cyrian fuhr sich über das Brandmal auf seinem Schenkel. Es hatte grausig weh getan, als die Gardisten ihm das einbrannten, nachdem sie ihn zum ersten Mal aufgegriffen hatten. Nur mit diesem Zeichen durfte man ‚straffrei’ huren. Wer es trug, musste regelmäßig Bestechungsgeld an die Stadtwachen zahlen und wurde dafür nicht eingesperrt oder hingerichtet. Auch die Kundschaft ließ man unbehelligt zu ihnen gelangen, trotz der Verbote. Schließlich wollten die Wächter ihre lukrative Einnahmequelle nicht verlieren.
Ich will nie wieder meinen Arsch hinhalten. Ich will mehr sein als eine Hure. Eines Tages werde ich ein Arzt sein! Thars soll mir Lesen und Schreiben beibringen. Das tut er bestimmt, er hat es versprochen.
Und irgendwie würde Cyrian herausfinden, wie er an das Mittel kommen konnte. Irgendwie …
Thars
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