Das Todeshaus
in seiner Magengegend, ließen ihn schwindelig werden. Die Ewigkeit der Nacht und die sanft geschwungenen Hügel der Berge saugten die Kraft aus seinen Beinen, die sich auf einmal wie Gummi anfühlten. Er zwang sich, nicht an den Abgrund zu denken, der zu allen Seiten lauerte. Doch verglichen mit den Ängsten, denen er sich in den letzten Stunden hatte stellen müssen, wirkte seine Furcht vor der Höhe belanglos und blass.
Mason blinzelte das Blut von seinen Augen und nahm die irreale Kulisse auf dem Witwensteg in sich auf. Anna stand an der Brüstung zwischen Miss Mamie und einer alten Frau, die ein schmutziges Kleid trug und um deren Schultern ein zerfetzter Schal hing. Sie schienen sich um Anna zu streiten, die wie betäubt wirkte und im grellen Mondlicht hin und her schwankte. Die kühle Herbstluft schickte Frostschauer über Masons schweißige Haut. Zitternd berührte er die klaffende Wunde in seiner Schulter. Die Schmerzen, die daraufhin durch seinen Körper zuckten, rissen ihn aus seinen Gedanken heraus und er rannte zu Anna.
»Das Gemälde«, sagte er. »Du hast zu mir gesprochen.«
»Wer sind Sie?« fragte Anna.
»Wo ist die Statue?« wollte Miss Mamie wissen. »Sie haben sie doch nicht etwa allein da unten gelassen, oder?«
Er schaute hinter sich zur Falltür. »Wir müssen von hier verschwinden, Anna.«
Als Mason nach ihrem Arm griff, traf ihn die Kälte ihrer Haut wie ein elektrischer Schlag. Er schaute in ihre Augen und sah eine Dunkelheit, die scheinbar endlos war. Tunnel. Ihre Augen waren Tunnel der Seele, die entweder in den Tod führten oder einer noch tieferen Finsternis in ihrem Innersten entsprangen.
Er wollte sie schütteln und fragen, was los war. Doch dazu kam er nicht, denn in diesem Moment steckte die Statue ihren unförmigen Kopf durch die Öffnung. Einige der Gäste kreischten auf beim Anblick des hölzernen Geschöpfs, das mit klappernden Gliedern die Stufen zum Witwensteg hinauftrampelte, die Brust noch immer durchbohrt von Masons Meißel, die Büste eingepfercht unter ihrem dicken, klobigen Arm. Die Abramovs hielten mitten im Arpeggio inne. Ein Weinglas zersprang. Miss Mamie rang nach Luft und stürzte auf die bestialische Gestalt zu. »Ephram!«
Auf wackeligen Beinen stehend hielt die Statue die Büste noch immer wie ein Kind in den Armen. Die Augen der Büste glühten vor Zorn, starrten Mason erbost an. Miss Mamie schlang ihre Arme um den Torso aus Holz.
Die alte Frau griff unter ihren Schal und zog ein Stück Stoff heraus. Sie faltete es auseinander und ging langsam auf die Statue zu. »Ich habe dir gebracht, was du wolltest, Ephram.«
Mason schaute von der alten Frau zu Anna. Beide hatten diesen kobaltblauen Schimmer in ihren Augen, diesen Blick der verfluchten und verfolgten Seelen, und Mason wusste jetzt, warum ihm diese Augen so bekannt vorkamen. Es waren die gleichen Augen, die er voller Inbrunst in die Büste von Ephram Korban geschnitzt hatte.
Wieder griff er nach Anna, um sie zur Falltür zu schleifen, konnte an nichts anderes denken als zu fliehen. Drei Treppenaufgänge, das Haus voller Geister. Korban würde sie niemals gehen lassen. Aber einen Versuch war es wert.
Noch bevor Mason seinen Beinen befehlen konnte, sich zu bewegen, erschien ein Geist in der Nähe der Brüstung, der Anna wie aus dem Gesicht geschnitten war. Das Ebenbild von Anna hielt einen Blumenstrauß in den Händen. Genau wie die Frau auf dem Gemälde.
»Mutter«, rief Anna.
65. KAPITEL
So hatte sich Miss Mamie diese Nacht nicht vorgestellt. Das Geschehen entsprach nicht im geringsten dem, was sie sich in Abertausenden einsamen Stunden ausgemalt hatte, als ihr nichts geblieben war außer Ephrams Gesicht im Spiegel, sein Geist im Kamin und sein Porträt, aus dem er zu ihr sprach.
Diese Nacht sollte perfekt werden, die Verschmelzung zweier Seelen, die alles andere vergessen ließ. Ephram und seine geliebte Margaret, endlich wieder vereint. Im Leben wie im Tod. Mit Träumen, die es zu füllen galt.
Doch plötzlich war da diese alte Hexe Sylva, die Ephram schon vor so langer Zeit verführt hatte. Und dann auch noch Rachel, die eigentlich nie einen Platz im Haus haben sollte. Deshalb hatten sie und Korbans Diener sie gejagt, hatten sie in den Tod getrieben. Ephram hatte einmal gesagt, dass diejenigen, die ihn betrogen, niemals frei sein könnten. Aber diejenigen, die ihm dienten, durften ein zweites und letztes Mal sterben. Deshalb hatte Miss Mamie die Puppen mit den Apfelköpfen
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