Der Dämon aus dem grünen See
1. KAPITEL
„Bist du sicher, dass wir noch richtig sind?“
Genau das hatte sich Cassie Sherman auch schon ein paarmal gefragt. Während ihre Freundin Linda angestrengt nach draußen in den dunklen Wald starrte und dabei nervös mit ihrem dunklen Pferdeschwanz spielte, ließ Cassie das Navi nicht aus den Augen. Der kleine Pfeil befand sich immer noch auf einer dünnen grauen Linie, also wenigstens nicht im Nirwana, aber laut der Karte auf dem Display musste in knapp hundert Metern eine Weggabelung kommen, und bisher war davon nichts zu sehen. Seit zehn Minuten waren die Wege immer schmaler und holpriger geworden, und inzwischen war es stockdunkel. Den letzten Briefkasten, der auf einem Baumstamm montiert war, hatten sie vor ein paar Minuten passiert, und das dazugehörige Haus, das man durch die Bäume nur schemenhaft hatte erkennen können, hatte unbewohnt ausgesehen. Umzudrehen wagte Cassie auf der schmalen Straße aber auch nicht – sie fuhr zwar den verbeulten Pick-up, den ihre Mutter ihr extra für die Reise geliehen hatte und der nicht gleich jedes Schlagloch übel nahm, aber wenn sie aus Versehen in einen Graben geriet oder stecken blieb, waren sie hier in der Wildnis ziemlich hilflos.
Zu dumm aber auch, dass sie in Tahoe beim Einkaufen der Vorräte – und ausgiebigem Shopping in Souvenir- und Klamottenläden – völlig die Zeit vergessen hatten und nun buchstäblich im Dunkeln standen.
„Cassie?“, hakte Linda drängend nach. Sie hatte ihre Haare losgelassen. Jetzt hielt sie sich mit einer Hand krampfhaft am Türgriff fest und versuchte mit der anderen, den imaginären Punkt auf der Landkarte nicht zu verlieren, an dem sie sich angeblich befanden.
„Das sieht hier völlig anders aus als auf dem Navi“, sagte sie zum wiederholten Mal. „Kannst du dich wirklich an gar nichts erinnern?“
Cassie schüttelte den Kopf mit den schulterlangen, ungebändigten rotblonden Locken. „Wie denn auch? Ich war vor fünf Jahren das letzte Mal hier, und da habe ich nicht auf markante Wegzeichen geachtet. Ach, warte, hier kommt tatsächlich eine Gabelung. Laut Navi müssen wir jetzt rechts.“
„Da ist aber gar keine Straße mehr, nur noch Fahrspuren“, stöhnte Linda, als sie die Rinnen, zwischen denen büschelhohes Gras wuchs, im Scheinwerferlicht sah.
„Das war damals auch schon so, daran kann ich mich erinnern“, versuchte Cassie, sie zu trösten. „Ich habe dir schließlich Ferien in unberührter Natur versprochen, kein Hotel an einer sechsspurigen Autobahn.“
„So wie’s aussieht, müssen wir aber die erste Nacht im Auto verbringen“, murmelte Linda. „Wenn du meinst, dass ich hier mitten im Wald aussteige …“
„Ganz ruhig, Süße“, erwiderte Cassie fröhlich. Sie hatte tatsächlich ein Wegzeichen wiedererkannt – eine große Zeder mit einem auffälligen Ast, der im Zickzack wuchs und über den Weg hing. „Wir sind gleich da.“
Linda spähte in die Dunkelheit. „Meinst du? Hier ist weit und breit nichts zu sehen.“
„Die Hütte liegt direkt am See, man sieht sie von hier aus nicht. Schau, da ist schon unser Briefkasten.“
Cassie hielt an, und die Scheinwerfer beleuchteten die Milchkanne, die mit der Öffnung nach vorn aufgehängt war und auf die in Schönschrift „Sherman“ geschrieben stand. Mehrere bunte Handabdrücke in verschiedenen Größen umrahmten den Namen.
„Hier kommt tatsächlich der Briefträger?“, fragte Linda kopfschüttelnd. „Unglaublich.“
„Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung. Wir haben hier noch nie Post bekommen. Ich glaube, die Briefkästen sind eher für die Nachbarn, wenn man sich mal eine Nachricht schreiben will. Und natürlich damit man weiß, wo man wohnt.“
Triumphierend kurbelte Cassie am Lenkrad und bog hinter der Milchkanne auf einen Grasweg ein.
Linda atmete hörbar auf, als sie eine sanfte Kuppe überwunden hatten und dahinter tatsächlich ein Holzhaus sichtbar wurde. Neben ihm glitzerte eine Wasserfläche im Mondlicht. Da das Haus auf einer geräumigen Lichtung stand, war jetzt sogar wieder der Mond zu sehen.
„Tadaaa! Na, hab ich dir zu viel versprochen?“, fragte Cassie zufrieden, parkte den Wagen neben dem Haus und stellte den Motor ab.
„Kommt drauf an, wie’s drinnen aussieht“, meinte Linda grinsend, jetzt wieder deutlich entspannter.
„Tja, da hast du natürlich recht. Wir werden erst mal die ganzen Spinnweben wegmachen müssen, bevor wir da drin schlafen können, ganz zu schweigen von den toten Fliegen und
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