Das Todeskreuz
Rechtsanwältin arbeiten, wenn sie nie das Haus verlassen
hat? Das geht doch gar nicht. Du musst mit Mandanten sprechen,
du musst vor Gericht auftreten und ...«
»Das werden wir hoffentlich noch heute erfahren. Die Tochter
sagt, dass ihre Mutter ausschließlich von zu Hause aus gearbeitet
hat und Unterredungen mit Mandanten von Kollegen übernommen
wurden.«
»Ich kapier das trotzdem nicht«, warf Kullmer ein. »Als Anwalt
hole ich mir doch keinen Partner, den ich nie zu Gesicht
bekomme.«
»Wir fragen Frantzen, denn Spekulieren bringt uns nichts. Außerdem
gehörte Frantzen neben der Tochter und einer gewissen
Frau Cornelius, die wohl so etwas wie die Haushälterin war, zu
den einzigen Personen, die Zutritt zum Haus hatten. Die Sittler
litt unter Agoraphobie und war laut Tochter auch paranoid. Die
beiden haben sich nicht sonderlich gut verstanden, auch wenn sie
regelmäßig telefoniert haben und die Tochter ihre Mutter etwa
einmal die Woche besucht hat. Sie hat mir erzählt, dass die Drohungen
gegen ihre Mutter und auch der Überfall wohl nach einem
Prozess begannen, bei dem die Sittler die Anklage vertreten hat.
Jetzt gilt es herauszufinden, um was es bei diesem unseligen Prozess
ging, denn als solchen hat ihn die Tochter bezeichnet. Er
kann, muss aber nicht der Schlüssel sein. Auf jeden Fall hat sie
danach die Seiten gewechselt.«
»Du sagst, nach dem Überfall hat sie sich zurückgezogen. Wie
alt war sie da?«
»Vierunddreißig.«
»Verdammt jung, um sich vom normalen Leben zu verabschieden.
Und wie alt ist die Tochter?«
»Fünfundzwanzig.«
»Was? Dann hat die Sittler sie ja mit neunzehn bekommen«,
stieß Seidel überrascht hervor, nachdem sie kurz nachgerechnet
hatte.
»Richtig. Allerdings lebte sie fast ausschließlich bei ihren
Großeltern. Der Vater ist Amerikaner und wieder drüben in den
Staaten. Erwähnenswert ist auch, dass die Sittler seit langem mit
ihren Eltern zerstritten war. Sie hat nach dem Tod ihres Vaters vor
zwei Monaten nicht einmal eine Kondolenzkarte oder gar einen
Kranz geschickt. So viel zu den Familienverhältnissen. Das Bild,
das ich bis jetzt von ihr habe, lässt sie nicht gerade in einem sonderlich
freundlichen Licht dastehen.«
»Welche Bedeutung hat das Kreuz auf ihrem Rücken?«
Durant zuckte mit den Schultern und sagte: »Es soll wohl nur
ein weiterer Ausdruck dafür sein, dass sie ein böses Mädchen
war. Und es deutet außerdem darauf hin, dass der Mord von langer
Hand geplant war. Jemand hatte es auf sie abgesehen, und sie
wusste das, und deshalb die Abschottung von der Außenwelt.
Ihre Angst war also berechtigt. Dazu kommt, dass der Mörder die
Tat inszeniert hat. Alles war akribisch durchdacht und geplant,
vor allem der richtige Zeitpunkt. Und hingelegt hat er sie, als
hätte er sie symbolisch gekreuzigt. Aber lasst mich noch mal
kurz auf dieses Schuldbekenntnis eingehen. Ich habe es mir vergangene
Nacht noch ein paarmal durchgelesen, und dabei sind
zwei Zeilen für mich von großer Bedeutung. Nämlich: dass ich
Gutes unterlassen und Böses getan habe - ich habe gesündigt in
Gedanken, Worten und Werken. Das könnte darauf hindeuten,
dass sie während ihrer Zeit als Staatsanwältin Dinge getan hat,
die eine Staatsanwältin nicht tun sollte beziehungsweise nicht
tun darf. Sie hat möglicherweise Gutes unterlassen und Böses
getan. Fragt sich nur, was das gewesen sein könnte.« Sie stand
auf, holte sich einen Kaffee und stellte sich ans Fenster. »Sie war
eine noch sehr junge und vielleicht engagierte Staatsanwältin,
die gar nichts Böses getan hat, aber irgendjemand sieht das anders.
Wir wissen doch alle, wie häufig gerade Staatsanwälte unter
Beschuss geraten. Eine falsche Anklageerhebung, ein zu niedrig
gefordertes Strafmaß, wir lesen doch beinahe jeden Tag in der
Zeitung davon. Es kann natürlich auch sein, dass es sich bei dem
Täter um einen Stalker handelt, denn die Sittler war nicht gerade
ein hässliches Mauerblümchen. Er ist nicht an sie rangekommen,
aber dann hat sich durch irgendeinen dummen Zufall doch die
Gelegenheit ergeben. Das ist natürlich reine Spekulation und
nicht mal ein Stück Hundedreck wert.«
»Moment mal«, meldete sich Berger zu Wort. »Wenn sie, wie
Sie sagen, niemanden außer drei Personen ins Haus gelassen hat,
wieso ist sie dann auf den Fotos bekleidet, als hätte sie Besuch
erwartet? Was man eben so Bekleidung nennt.«
Durant lächelte vor sich hin und
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