Das Todeskreuz
wüsste nicht, wie sich dieser Schmerz anfühlt. Ihr habt überhaupt
keine Ahnung. Aber einer muss ja stark sein. Sie löste sich von
der Tür, ging in ihr Büro, nahm eine Tablette, legte sich auf die
Couch und schloss die Augen. Allmählich lockerte sich der Panzer
um ihre Brust, der Kloß verschwand, der Herzschlag normalisierte
sich. Sie blieb eine halbe Stunde liegen, entspannte sich
und nahm schließlich den Telefonhörer in die Hand.
»Hi, ich bin's, Silke.«, sagte sie. »Ich habe eine Patientin, die
dringend einen Termin braucht.«
»Augenblick. Sie soll morgen um halb sieben in die Praxis
kommen. Schlimm?«
»Sehr schlimm. Tschüs.«
Montag, 17.20 Uhr
Julia Durant stand vor dem dreistöckigen Haus, hatte
dreimal geklingelt und wollte bereits gehen, als sich eine männliche
Stimme durch die Sprechanlage meldete.
»Ja?«
»Durant. Ich würde gerne mit Frau Sittler sprechen.«
»Erster Stock.«
Sie drückte die Tür auf und ging die wenigen Stufen nach
oben. Es war ein modernes Haus, das Durants Einschätzung
nach erst kürzlich erbaut worden war. Die Stufen waren aus
hellem Stein, doch wenn sie jemand nach der genauen Bezeichnung
gefragt hätte, so hätte sie passen müssen. Das Einzige, was
sie sofort merkte, war, dass es sich um kein billiges Material
handelte. Der Aufgang erstrahlte in frischem Mattweiß, die in
die Decke eingelassenen Lampen verstärkten das Bild des Exklusiven.
Im ersten Stock angekommen, erwartete sie ein junger Mann
von vielleicht dreißig Jahren. Er stand in der Tür, die dunkelblonden
Haare zerzaust. Er trug eine Jogginghose und ein graues
T-Shirt über dem schlanken, aber nicht sehr durchtrainierten
Körper.
»Hallo«, begrüßte er Durant, die ihren Ausweis zeigte. »Kommen
Sie rein, Leslie ist gerade im Bad. Ich hab schon gehört, was
passiert ist. Dauert noch einen Augenblick, sie ist erst vor wenigen
Minuten nach Hause gekommen.«
Durant meinte seine Stimme schon einmal irgendwo gehört zu
haben, ohne sie einer Person zuordnen zu können. Sie trat direkt
in den großzügig und extravagant geschnittenen Wohnbereich.
Auch hier heller Steinfußboden, unter dem Fenster eine bordeauxrote
Ledercouch und ein dazugehöriger Sessel, ein Glastisch,
auf dem mehrere Zeitungen lagen und zwei Gläser standen,
eine Hasche Cola auf dem Boden neben dem Tisch. Ein ungewöhnlich
großes Bücherregal zierte die gegenüberliegende Wand.
Ein Läufer führte zum Essbereich, von dem aus man direkt durch
eine Durchreiche in die Küche sehen konnte.
»Darf ich fragen, mit wem ich es zu tun habe?«, sagte Durant,
die noch immer stand und den jungen Mann ansah.
»'tschuldigung, aber ich dachte, Sie hätten das unten am
Schild gelesen. Mahler, Matthias Mahler«, antwortete er und
reichte ihr die Hand.
»Matthias Mahler?« Durant neigte den Kopf ein wenig und
sah ihn zweifelnd an. »Jetzt sagen Sie nicht, dass Sie der Matthias
Mahler sind.«
Er lächelte verschmitzt und entgegnete: »Ich habe keine Ahnung,
wen Sie meinen, aber ...«
»Deshalb kam mir Ihre Stimme irgendwie vertraut vor. Sie
sind der Morgenmoderator bei FFH. Richtig?«
»Bingo, die Kandidatin hat neunundneunzig Punkte. Aber das
ist nichts Besonderes. Es ist ein Job wie jeder andere auch, na ja,
vielleicht nicht ganz. Aber bitte, nehmen Sie doch Platz.« Er deutete
auf den Sessel. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Nein, danke, machen Sie sich keine Umstände«, sagte sie
etwas verlegen. Jeden Morgen hörte sie FFH, und jedes Mal,
wenn Matthias Mahler moderierte, war es für sie ein guter Start
in den Tag. Und jetzt stand sie ihm gegenüber. Sie hatte sich ihn
ganz anders vorgestellt, größer, vielleicht mit einem kleinen
Bauch und ... Nun, eigentlich hatte sie sich nie Gedanken gemacht,
wie er aussehen könnte, doch jetzt wusste sie es. Er hätte
genauso gut ins Fernsehen gepasst, wäre er noch ein paar Zentimeter
größer gewesen. So standen sie sich noch einige Sekunden
in Augenhöhe gegenüber, bis sie sich setzte.
»Und Sie leben mit Frau Sittler zusammen?«
»Wir sind vor einem guten Jahr zusammengezogen. Das Haus
wurde fertig und wir haben uns gesagt, wenn nicht jetzt, dann
vielleicht nie. Das mit Les wird noch einen Moment dauern, denn
wenn sie im Bad i s t . . . Frauen halt«, meinte er grinsend.
»Nicht alle. Sagen Sie, was mich immer mal interessieren
würde, wann müssen Sie eigentlich morgens aufstehen, wenn Sie
um fünf mit der
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