Das Todeskreuz
an.
»Gut. Das heißt, es geht so. Das Wetter ist schön, und ich sollte
eigentlich glücklich sein«, antwortete Anna, den Blick zu Boden
gerichtet, die Hände gefaltet und zusammengepresst.
»Und warum bist du es nicht?«
»Kann ich nicht sagen. Ich seh die andern da draußen und
denke mir, die sind alle so unbeschwert und glücklich. Ich bin es
nicht, ich glaube, ich kann es nie mehr sein.«
»Was ist mit Alkohol?«
»Nichts.«
»Was heißt nichts? Hast du heute getrunken?«
»Und wenn?«
»Dadurch löst du keine Probleme«, sagte sie und sah in die
Runde, sah die andern zwölf Gesichter, die alle nur zustimmend
nickten. »Ihr seid hier, weil ihr alle etwas gemeinsam habt - ihr
seid nicht nur Opfer von Gewalt, sondern auch Opfer eines korrupten
Justizsystems. Doch ihr dürft niemals vergessen, dass ihr
das System zwar nicht ändern, aber euer Leben wieder in den
Griff bekommen könnt. Was immer euch auch angetan wurde,
die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Wer von euch ist davon
überzeugt, dass sich die Vergangenheit bewältigen lässt? Hand
hoch.«
Sechs Hände gingen nach oben.
»Warum glaubst du an eine bessere Zukunft für dich?«, fragte
sie eine bildhübsche junge Frau mit langen blonden Haaren, die
sie hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte,
mit wunderschön geschwungenen Lippen und tiefgrünen Augen,
die jedoch seltsam glanzlos und leer wirkten. Sie war direkt vom
Büro hergekommen und trug eine weiße Bluse und einen in verschiedenen
Brauntönen karierten Rock, der, wenn sie stand, etwas
oberhalb des Knies endete, doch jetzt im Sitzen war mehr als
die Hälfte der Oberschenkel zu sehen. Sie war schlank, hatte eine
gute Figur, schmale Hände mit grazilen Fingern, deren Nägel in
dezentem Rosa lackiert waren.
»Weil es so nicht weitergehen kann. Wenn ich mir vorstelle,
für den Rest meines Lebens so rumzuhängen, dann möchte ich
lieber tot sein.«
»Martina, du hängst nicht rum. Du hast einen guten Beruf, du
bist jung und erfolgreich, verdienst mehr Geld als die meisten
von uns und bist trotzdem nicht glücklich. Wir alle kennen den
Grund, und du hast das Glück, hier bei uns zu sein, wo sich jeder
zumindest einigermaßen in deine Lage versetzen kann. Wirst du
es schaffen?«
»Ja.«
»Sag es lauter.«
»Ja!«
»Schrei ganz laut -Ich werde es schaffen, wieder glücklich zu
sein und die Vergangenheit hinter mir zu lassen-.«
Martina strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn, schwitzte
und schrie mit einem Mal mit schriller Stimme: »Ich kann das
nicht! Wie soll ich vergessen, was dieses Schwein mir angetan
hat?! Ich werde nie wieder mit einem Mann zusammen sein können!
Es geht nicht! Es geht einfach nicht!!« Sie schluchzte und
wurde von einem Weinkrampf durchgeschüttelt, bis Silke aufstand,
ihren Arm um sie legte und beruhigend auf sie einredete.
»Es wird alles gut, glaub mir. Was du durchlitten hast, ist
schrecklich und durch nichts zu entschuldigen. Aber denk immer
daran, was wir in den letzten Monaten hier besprochen haben -
es gibt viele Menschen, die ein noch schlimmeres Schicksal erlitten
haben oder in diesem Moment erleiden, aber diese andern
Menschen sind nicht bei uns. Wir, deine Gruppe, sind es, die zusammen
sind und uns gegenseitig helfen. Wir alle wollen nur den
Teufel Vergangenheit aus unserm Leben verbannen. Martina, ich
bin jederzeit für dich da, das weißt du, und wenn es dir schlecht
geht, kannst du mich Tag und Nacht anrufen.«
Martina hatte sich ein Taschentuch genommen, wischte sich
die Tränen vom Gesicht und putzte sich fast geräuschlos die
Nase. Ihre Augen waren gerötet, genau wie ihre Nasenspitze. Die
Hände zitterten, die Beine hielt sie eng geschlossen.
»Es tut so weh, es tut so unendlich weh«, sagte sie leise, wobei
sie immer wieder schluchzte. »Ich werde niemals wieder ein normales
Leben führen können. Es ist sinnlos. Nein, ich bin nicht
davon überzeugt, dass sich die Vergangenheit bewältigen lässt.
Ich habe gelogen.«
»Das ist nicht schlimm, wir alle lügen hin und wieder, allein,
um uns zu schützen. Ich werde dir jetzt eine Frage stellen, und
ich bitte dich, genau zu überlegen, bevor du antwortest: Würde es
dir leichter fallen, wieder in ein normales Leben zurückzufinden,
wenn dein Peiniger eine gerechte Strafe erhalten würde?«
Martina sah ihr Gegenüber an und zuckte mit den Schultern.
Nach einer Weile sagte sie: »Ich weiß es nicht. Was er mir angetan
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