Das Todeskreuz
hat, kann keine Strafe der Welt wiedergutmachen. Außerdem,
was ist schon eine gerechte Strafe?«
»Zum Beispiel, wenn er tot wäre?«
Schulterzucken.
»Wäre es eine Genugtuung?«
»Hör auf, es bringt doch nichts. Es hat keinen Sinn, überhaupt
nichts hat mehr einen Sinn. Ich komme schon klar. Ich bin ja
auch bisher damit klargekommen.«
»Du bist jetzt zum achten Mal hier, die andern kommen schon
seit Monaten, Anna und Nathalie sogar seit drei Jahren. Ich
möchte dich bitten, im Anschluss noch einen Moment zu bleiben,
damit wir uns in Ruhe unterhalten können. Du hast doch Zeit?«
»Hm.«
»Gut.«
Sie setzten die Sitzung noch eine Stunde fort, und wie jeden
Montag und Donnerstag blieb die Gruppe aus mittlerweile zwölf
Frauen bis achtzehn Uhr zusammen. Und wie bei jedem dieser
Treffen hatte Silke auch diesmal ein Band mitlaufen lassen, von
dem die Teilnehmerinnen nichts wussten. Sie würde es sich noch
einmal anhören und entsprechende Notizen machen. Sie wusste,
es gab mindestens drei Frauen, die akut suizidgefährdet waren,
zwei von ihnen hatten sogar schon einmal versucht sich das Leben zu nehmen, weil sie mit ebendiesem Leben nicht mehr zurechtkamen.
Alle waren gegangen, nur Martina blieb noch, wie Silke sie
gebeten hatte. Sie gingen ins Büro, einen großen hellen Raum,
der gemütlich eingerichtet war.
»Ich weiß, dass es für dich erst der Anfang ist«, sagte Silke,
nachdem Martina Platz genommen hatte. »Aber denk dran, für
keinen war es ein leichter Schritt, sich den andern gegenüber zu
öffnen. Und glaub mir, es war kein Zufall, dass du bei uns gelandet
bist. Es gibt nämlich keine Zufälle, nur Fügungen. Ich gebe
dir ein Antidepressivum mit. Davon nimmst du jeweils morgens
und abends eine Tablette. Die Wirkung tritt aber erst nach etwa
zehn bis zwölf Tagen ein. Danach wirst du dich viel freier fühlen.
Einverstanden?«
»Ich bin nicht depressiv«, wehrte Martina ab, doch es klang
nicht sehr überzeugend.
»Doch, du musst es dir nur eingestehen. Du weist alle klassischen
Symptome einer Depression auf, Angst- und Panikattacken,
typische körperliche Beschwerden, die aber eine psychische
Ursache haben. Bei unserm ersten Gespräch hast du mir anvertraut,
dass du unter Angstzuständen leidest, dass du nicht allein
sein kannst und möchtest, weshalb du auch wieder bei deinen
Eltern wohnst. Ich werde dir helfen, wo ich nur kann, die Voraussetzung
ist jedoch, dass du mitarbeitest. Ich muss mich darauf
verlassen können, sonst hat das alles keinen Sinn.«
»Ich werd's versuchen«, entgegnete Martina, doch der Ton
verriet, dass es ein langer und steiniger Weg werden würde, bis
Martina wieder in ein einigermaßen normales Lebens zurückfand.
Aber sie würde es schaffen, das spürte sie, denn Martina
gehörte nicht zu jenen, die aufgaben, das hatte Silke schon beim
ersten persönlichen Treffen erkannt. Martina war eine Kämpfernatur,
auch wenn sie noch unter einem schrecklichen Trauma
litt.
»Hast du morgen einen Termin frei?«, fragte Martina mit
einem Mal.
»Wann möchtest du kommen?«
»Wie heute.«
Sie blätterte in ihrem Terminkalender und sagte: »Geht es
auch etwas früher? So gegen halb vier? Ich hab um fünf wieder
einen Termin.«
Martina nickte. »Hm. Ich muss dir noch etwas ganz Wichtiges
erzählen.«
»Was? Ich habe auch jetzt Zeit, wenn du möchtest«, sagte Silke,
zog sich einen Stuhl heran und setzte sich Martina direkt gegenüber.
Martina nickte. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie stockend
berichtete. »Er hat mich nicht nur vergewaltigt und geschlagen,
er hat auch etwas anderes gemacht. Es war kurz vor
Weihnachten, und er war mal wieder zugekokst und hatte dazu
noch getrunken und hat mich stundenlang vergewaltigt und dabei
andauernd so teuflisch gelacht. Ich werde dieses Lachen nie vergessen,
es ist immer da. Ich habe gedacht, ich würde diesen
Abend und diese Nacht nicht überleben, vor allem, als er das
Gewehr aus dem Schrank holte und auf meinen Kopf zielte. Es
war so ein Gewehr mit einem breiten Lauf, das er mir unten reingeschoben
hat. Er hat so kräftig zugestoßen, dass ich vor Schmerzen
nicht mehr klar denken konnte. Ich wollte nur noch bewusstlos
werden, aber ich wurde nicht bewusstlos. Ich weiß nur, dass
ich solche wahnsinnigen Schmerzen hatte, es war so unerträglich,
auch weil ich dachte, gleich drückt er ab. Er hat ein paarmal
gefragt, ob das nicht ein geiles Gefühl ist, so ein Rohr in der
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