Das Tor zur Hölle - Hellraiser
Risiko. Welche Strafe konnte schlimmer sein als der Gedanke an Schmerz ohne die Hoffnung auf Erlösung?
Er hatte Glück gehabt. Manche Gefangenen hatten sich aus der Welt verabschiedet, ohne eine hinreichende Spur von sich zu hinterlassen, aus der unter dem günstigen Zusammentreffen von Umständen ihre Körper wieder zusammengesetzt werden konnten. Er hatte. Beinahe seine letzte Handlung, einmal abgesehen vom Schreien, war es gewesen, sein Sperma auf dem Boden zu hinterlassen. Sperma war zwar ein dürftiges Überbleibsel seines essentiellen Selbst: Doch es genügte. Als der liebe Bruder Rory (der niedliche, tolpatschige Rory) mit dem Meißel abgerutscht war, war da noch etwas von Frank dagewesen, das von dem Schmerz profitierte. Er hatte einen Halt für sich gefunden, und einen ersten Hinweis auf die Substanz, mit deren Hilfe er sich vielleicht in Sicherheit bringen konnte. Jetzt lag alles an Julia.
Manchmal, während er in der Wand litt, dachte er, sie würde ihn aus Angst im Stich lassen. Entweder das, oder sie würde die Vision, deren sie teilhaftig geworden war, rationalisieren und entscheiden, daß sie nur geträumt hatte. Wenn es so kam, war er verloren. Er hatte nicht genügend Kraft, sein Erscheinen zu wiederholen.
Doch es gab Anzeichen, die ihn hoffen ließen. Die Tatsache, daß sie zwei, dreimal in das Zimmer zurückgekehrt war, zum Beispiel, und einfach in der Dunkelheit dagestanden und auf die Wand gestarrt hatte. Bei ihrem zweiten Besuch hatte sie sogar ein paar Worte vor sich hingemurmelt, obwohl er nur einige Bruchstücke hatte hören können. Das Wort ›hier‹ war darunter. Und ›warten‹; und ›bald‹. Genug, um ihn nicht verzweifeln zu lassen.
Noch etwas anderes gab ihm Grund zum Optimismus.
Sie war einsam, nicht wahr? Er hatte es in ihrem Gesicht abgelesen, als sie und sein Bruder – vor dem Tag, an dem Rory sich verletzt hatte – gemeinsam in diesem Zimmer gewesen waren. Er hatte es gesehen, als ihr Schutzschild für einen kurzen Moment fiel und die Trauer und die Frustration, die sie empfand, sichtbar wurden.
Ja, sie war einsam. Verheiratet mit einem Mann, für den sie keine Liebe empfand, und außerstande, einen Ausweg zu finden.
Nun, jetzt war er da. Sie konnten einander retten, so wie Liebende es nach Aussage der Dichter taten. Er war das große Geheimnis, er war Dunkelheit, er war alles, was sie sich je erträumt hatte. Und wenn sie ihn befreite, würde er ihr dienen – o ja –, bis ihre Lust jene Grenze erreichte, hinter der die Starken stärker wurden und die Schwachen untergingen.
Dort war Lust Schmerz; und umgekehrt. Und er kannte dieses Land gut genug, um es sein Zuhause zu nennen.
SECHS
In der dritten Septemberwoche wurde es kalt: Ein arktischer Kälteausläufer brachte einen schneidenden Wind mit sich, der im Lauf einiger Tage alle Blätter von den Bäumen riß.
Die Kälte machte eine Änderung der Kleidung nötig, ebenso wie eine Änderung des Plans. Statt zu Fuß zu gehen, nahm Julia den Wagen. Am frühen Nachmittag fuhr sie in die Stadt und fand eine Bar, in der es lebhaft, aber nicht zu lautstark war.
Die Gäste kamen und gingen; junge Leute aus den Kanzleien von Anwälten und Steuerberatern, die über ihre Ambitionen debattierten; Gruppen von Weinschlürfern, deren einziger Anspruch auf Nüchternheit von ihren Anzügen demonstriert wurde und, was bedeutend interessanter war, hier und da verstreute Einzelgänger, die allein an ihren Tischen saßen und einfach nur tranken. Sie heimste eine zufriedenstellende Anzahl an bewundernden Blicken ein, doch diese kamen meist von den jungen Leuten. Erst als sie schon eine Stunde in dem Laden verbracht hatte, bemerkte sie jemanden, der sie im Barspiegel beobachtete. Für die nächsten zehn Minuten klebten seine Augen an ihr. Sie trank gleichgültig weiter und versuchte, jegliches Anzeichen von Erregung zu verbergen. Und dann stand er unvermittelt auf und kam an ihren Tisch.
»Sind Sie allein?« fragte er.
Sie wollte davonlaufen. Ihr Herz hämmerte so laut, daß sie sicher war, daß er es hören konnte. Doch nein – er fragte sie, ob er ihr einen Drink bestellen dürfe, und sie sagte ja. Offensichtlich erfreut darüber, nicht abgewiesen worden zu sein, ging er zur Bar, bestellte zwei Doppelte und kehrte wieder zu ihr zurück. Er war rotgesichtig und eine Nummer größer als sein dunkelblauer Anzug. Nur seine Augen, die jeweils nur Bruchteile von Sekunden auf ihr ruhten, bevor sie wie erschreckte Fische wieder
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